Gefährlicher Sommer (Teil 15; 1. Hälfte) - Page 6

Bild von Annelie Kelch
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ihre zackigen Runden, und ehe ich wusste, wie mir geschah, brannte meine Stirn wie Feuer. Gleichzeitig stellte ich mir vor, wie ich wohl mit einem roten Horn zwischen den Brauen aussah. Ausgerechnet auf der Stirn, dachte ich erbost. Auf dem Hintern wäre genügend Platz gewesen, zumal ich während der Ferienzeit sel­ten saß. Entweder lief ich herum, stand auf der Stelle oder lag lesend irgend­wo im Gras. Ich rannte sofort zu Opa, der den Stachel entfernte und den roten Buckel mit Petersilienkraut und dem Saft einer rohen Zwiebel behandel­te.
„In dieser schwülen Luft vermehren sich die Viecher wie die Pest“, schimpfte ich. Die haben sich auf dem Teerdach bestimmt ein Nest gebaut. Kann man das nicht ausräuchern, Opa?“, fragte ich.
„Das kann sehr gefährlich werden, und außerdem verstehe nicht genug vom Verhalten dieser Tiere. Aber ich werde bei nächster Gelegenheit Axel fragen, was man dagegen unternehmen kann. Das verspreche ich dir, Katja. Normalerweise sind Bienen friedvolle Tiere. Sie stechen nur, wenn sie sich bedroht fühlen.“
Wie Wildschweine, dachte ich, aber wahrscheinlich nicht ganz so schlau. „Ich hatte keine Sekunde lang die böse Absicht, dieser wildgewordenen Imme zu nahe zu treten, Opa“, sagte ich. „Eigentlich hätte sie es merken müssen.“
Aber insgeheim war ich immer noch stinksauer und wünschte dieser giftstacheligen Brummerflüglerin eine Armee Bienenfresser an den Saugrüssel.
„Diese Viecher können zur Plage ausarten“, mischte sich Tante Agnes ein, die Oma ein Glas Johannisbeermarmelade spendiert hatte. „Vorletztes Jahr war es besonders schlimm. Ich konnte die Dinger buchstäblich von den Scheiben pflücken. Mit dicken Gartenhandschuhen natürlich. Wespen über Wespen! Bis weit in den November hinein dauerte die Plage! Bis Ende August waren sie brummelig und pflegmatisch. Aber dann, im September, tauchten plötzlich die Halbstarken auf, zornige junge Männer, die dröhnten, surrten und summten und regelrechte Tänze aufführten. Seither schlafe ich nur noch unterm Moskitonetz.“
„Und nachher trägst du Puder drauf, und in ein paar Tagen ist nichts mehr zu sehen“, versuchte Mutti mich zu trösten.
„Puder!“ Ich schnaubte verächt­lich. „Puder benutzen uralte Frauen.“
„Ich bin noch lange keine alte Frau“, giftete Mutti mich an, während Oma schwieg und sich genießerisch in Scha­denfreude hüllte, wegen der „uralten Frauen“; denn Oma verabscheute sowohl Puder als auch Lippenstift. Ich schmierte die rote Quaddel dick mit Penaten­crème ein und beschloss, den Rest des Tages in Omas und Opas Wohnzim­mer zu verbringen, wo mir nichts annähernd Schlimmes mehr passieren konnte. Vertieft in „Gösta Berling“, nahm ich Opas Lieblingssessel in Be­schlag, worin man besonders tief und weich sitzt, was Opa mir ausnahmswei­se gestattete.
Und als Kora mich zum Federballspielen abholen wollte, ließ ich mich verleugnen. Mir stand einfach nicht der Sinn nach spöttischen Bemer­kungen, zu denen sich zumindest Hannes hinreißen lassen würde. Oma sagte, sie habe schon lange nicht mehr einen derart angenehmen Nachmittag im Kreise ihrer Lieben verbracht und bedankte sich überschwäng­lich bei dieser hundsgemeinen Stichimme, liebe Christine. Ich dachte natürlich immer wieder daran, was Knut mal gesagt hat: „Bienen sind das nützlichste Völkchen, das ich kenne. Wenn es im Rapsfeld nur so hummelt und brummelt, fällt die Ernte um dreißig Prozent reicher aus.“ – Na dann ...
Nach dem Abend­essen wünschte ich meiner erstaunten Verwandtschaft eine gute Nacht und verzog mich in die oberen Gemächer. Axel Kröger, der die Treppe herabge­laufen kam, die unter seinen Schritten ächzte und stöhnte, blieb vor mir stehen und sah mich entgeistert an. „Welcher Kaste gehörst du an, Katja?“, fragte er und grinste frech. Er entwickelte dabei eine unüber­sehbare Ähnlichkeit mit Casanova-Hannes.
„Bienenstich, garan­tiert unge­nießbar“, sagte ich und wollte mich an ihm vorbeizwängen, aber Kröger ergriff meinen Arm, sah mir geradewegs in die Augen und fragte: „Hast du Helge heute schon gesehen? In seinem Zimmer ist er jedenfalls nicht.“ Danke für die Auskunft, lieber Herr Kröger, dachte ich und sagte: „Nein, Herr Kröger, ich weiß auch nicht, wo Helge steckt.“
„Gute Nacht, Katja und schlaf gut. Ich muss noch zur Nordweide. Eine Rotbunte ist mal wieder ausgebüxt“, sagte er und blickte mich dabei fast zärtlich an. „Und schließ bitte wieder deine Kammertür ab, bevor du dich schlafen legst.“ Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, Christine. Was habe ich getan beziehungsweise an mir, dass ein Mann um die dreißig einen Narren an mir gefressen zu haben schien. Ein fremder Mann, der mir bei unserer ersten Begegnung beinahe die Hand zerquetscht hätte.
Unsympathisch war mir Axel Kröger längst nicht mehr; aber sein offensichtliches Interesse an mir verwirrte mich mehr, als ich zugeben wollte.
In meinem Zimmer angekommen, fischte ich blitzschnell die Message unter meiner Matratze hervor – sie war Gott sei Dank noch da; denn man konnte in diesen überaus ereignisreichen Ferientagen beim besten Willen nicht voraussehen, was sich auf Lachau noch alles ereignen würde. Ich versteckte die brisante Botschaft unter meinem Pullover, während ich über den Flur zu Helges Junggesellenbude schlich. Wie der Typ in „Über den Dächern von Nizza“ lautlos von Giebel zu Giebel hüpft, so öffnete ich nahezu frei von jedwedem Geräusch und in Zeitlupe die Tür und glitt ins Zimmer hinein. Helges Bett war gemacht! Vor lauter Staunen wäre mir beinahe der Brief aus dem Pulli gefallen. Ein gemachtes Bett ist nämlich außergewöhnlich bei Menschen, die in aller Herrgottsfrühe auf den Acker oder zum Melken müssen, wenigstens nach meiner Erfahrung. Helge war somit als außergewöhnlich einzustufen, wahrscheinlich nicht nur in dieser Hinsicht. Das „gemachte Bett“ erwies sich als Riesenvorteil für unseren Plan. Ich verstaute das Dokument mit dem hochexplosiven Inhalt vorsichtig unter der weißrot gewürfelten Bettdecke und zog mich genauso geräuschlos aus dem Zimmer zurück, wie ich hineingekommen war. Nachdem ich die Tür zu meinem Gemach hinter mir abgeschlossen hatte, sank ich erleichtert aufs Bett. Mir war zumute, als hätte ich mich gerade von einer zentnerschweren Last befreit. Die wirren Gedanken an die Folgen unserer gefahrvollen Aktion verdrängte ich einfach und schlief auf der Stelle ein – in voller Montur und ohne vorher die wohltuende Müdigkeit verspürt zu haben, die die Zerenomie der abendlichen Körperpflege mit sich bringt.
Das Erste, was mir beim Aufwachen einfiel, war: Wir haben eine schwere Straftat begangen: Wir haben Helge erpresst. Welcher Teufel hat mich geritten, dass ich mich darauf einließ.
Dass es im Haus mucks­mäuschenstill war, erhöhte mein schlechtes Gewissen ganz erheblich. Ich sah auf meine Armbanduhr: Viertel vor sieben. Leni musste schon unten in der Küche sein. Vielleicht fütterte sie gerade die Katzen ... oder sie saßen alle auf der Veranda: Frau Brandner, Helge und Leni – und rätselten herum, wer es ge­wagt hatte, dieses infame Schreiben ins Zimmer des Hoferben zu schmuggeln. Das würde das Ende bedeuten, liebe Christine. Schluss und Aus mit den gemeinsamen wunderbaren Ferien auf Hof Lachau. Ich zwang mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Schließlich hatten wir diesen Plan nicht aus heiterem Himmel gefasst. Wir hatten uns etwas dabei gedacht und mussten die Sache jetzt zu einem Ende führen. Zu einem möglichst guten Ende. Sollte Helge wider Erwarten doch nichts mit dem Mord an Knut zu tun haben, war es um so besser, und zwar für uns alle. Langsam, wie in Zeitlupe, zog ich die verschwitzte Kleidung aus und wusch mich gründlich. Als ich in den Spiegel sah, stellte ich erleichtert fest, dass das rote Horn, welches mir die Biene verpasst hatte, so gut wie verschwunden war. Lediglich ein blasser rosa Fleck war noch zu sehen. Damit konnte ich mich wieder ohne Bedenken vor der Clique sehen lassen.
Mutti hatte mir einen türkisfarbenen, engen Rock genäht, den ich erst einmal getragen hatte – auf dem letzten Klassenfest nämlich, kurz vor den Ferien. Es ist erstaunlich, liebe Christine, aber das gute Stück hatte die Reise im Koffer knitterfrei überstanden. Ich wählte eine weiße Bluse dazu und wusste im Voraus, was Oma einfallen würde, wenn ich derart herausgeputzt in ihre Küche trete. Sobald sie mich erkannt hatte und gewiss war, dass ihre vom Nähen getrübten Augen sich nicht täuschten, käme wortwörtlich über ihre Lippen: „Endlich sieht ,das Kind' mal manierlich aus.“
Ich war mir dessen der­maßen sicher, dass ich jede Wette darauf eingegangen wäre. Aber zuerst musste ich in dem ungewohnten „Aufzug“ an Leni vorbei, die prompt ihren Kopf aus der Tür steckte, als ich die Treppe herunterkam.
„Morgen, Katja, wem willst du denn heute imponieren?“, fragte sie. Und als ich mich wortlos vorbeischmuggeln wollte, sagte sie: „Na, das ist aber ein schicker Rock. Den hat gewiss deine Mutter genäht, stimmt's?“
„Jaaaa, Leni“, gab ich verlegen zu, als ob mich das Thema maßlos langweilen würde (was es ja eigentlich auch tat). „Zu irgendwas muss Mutter Kleve ja schließlich gut sein“, lächelte ich das alte Hausmädchen an. Leni ließ sich sofort darauf ein und wir alberten eine Zeitlang um die Wette.
„Kaffee?“, fragte ich schließlich und zeigte auf eine große Tasse mit holländischen Motiven in Weiß und Blau, die mitten auf dem Tisch stand.
„Hat Helge heute Morgen stehen lassen. Was dem wohl wieder fehlt?! An dem Kaffee ist wirklich nichts auszusetzen, Katja. Alle haben ihn getrunken: Heiner, Frau Brandner, Gudrun. Und sogar Axel! Wenn mit dem Kaffee irgendwas nicht koscher gewesen wäre, wäre Axel mir schon mit irgendeiner Bemerkung aufs Dach gestiegen. Jetzt ist er kalt.“
„Wer?“, fragte ich. „Axel Kröger?“ Leni griente.
„Der Kaffee natürlich. Mach nicht immer so makabere Witze, Katja. Und überhaupt“, fuhr Leni fort. „Helge muss schon mit dem verkehrten Fuß aus dem Bett gestiegen sein. Fahrig, nervös und vollkommen unkonzentriert hing er heute Morgen am Frühstückstisch herum. Mit der Gnädigsten hat er sich auch in die Wolle ge­kriegt – wegen der Hainbuchhecken und dem Getreide.
„Wieso?“, fragte ich, obwohl ich mit meinen Gedanken ganz woanders war.
Wo, willst du wissen, liebe Christine? Natürlich bei Helge und seiner schlechten Ver­fassung.
„Nun“, fuhr Leni aufgeregt fort, „die Gnädigste will die schönen Hainbuchhecken, die den Park zu den Feldern hin säumen, unbedingt behal­ten, aber Helge will dort partout Tannen pflanzen. Also muss die Hecke weg. Und wegen des Dauerregens im Mai müsse die Gnädigste mit starken Ver­lusten bei der Getreideernte rechnen. Sagt jedenfalls Helge.“
„Unfug“, misch­te sich eine Männerstimme in unser Gespräch: Axel Kröger stand auf der Schwelle und sah mich aufmerksam an, während er weitersprach. „Erstens gab es weder im April noch im Mai Dauerregen und zweitens steht unser Ge­treide mindestens so gut wie im letzten Jahr, wenn ich den minutiösen Auf­zeichnungen trauen darf, die Knut Knudsen, mein werter Vor­gänger, hinter­lassen hat (Sie dürfen, Herr Kröger, Sie dürfen, und zwar mit absoluter Sicherheit, dachte ich, nachdem mein Herz bei der Erwähnung von Knut mehrere Purzelbäume geschlagen hatte). Weiß der Teufel, was plötzlich wieder mit diesem Helge los ist.“
Dann wissen es jetzt genau drei: Der Teufel, Hannes und ich, fuhr es mir durch den Kopf, und ich musste mich be­mühen, einigermaßen ernst zu bleiben, obgleich es bei diesem Thema nun wirklich nichts zu lachen gibt.
„Katja, du kommst mir heute so anders vor als sonst“, lächelte Kröger und musterte mich mit einem gedankenvollen Blick.
„Na, ja,“ sagte Leni, „sie sieht an diesem denkwürdigen Tag einmal nicht aus wie eine halbwüchsige Wilde in Shorts und kariertem Hemd, sondern ausnahmsweise wie ein richtiges junges Mädchen.“
„Hm“, nickte Kröger. „Das wird es wohl sein, Lene.“
Er lächelte versonnen, bedachte mich mit einem Blick, der mir nicht so schnell wieder aus dem Sinn wollte, liebe Christine, und stiefelte in Richtung Veranda davon.
„Katja, was stehst du hier noch herum?“, meckerte Leni plötzlich. „Dein Zuckerei wird kalt. Marsch zu Anita in die Küche. Sonst bekomme ich wieder die Schuld, dass du nicht pünktlich zum Frühstück erscheinst.“
„Ja, Leni, ich geh ja schon“, sagte ich und machte mich betont langsam auf den Weg. Durch das große Verandafenster erwischte ich noch einen Zipfel vom Gutsinspektor, genauer ge­sagt, seinen tiefbraunen Arm, der in einem kurzen, dunkelgrünen Armeeärmel steckte: Er zog die Tür zum Pferdestall hinter sich zu.

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Kommentare

29. Aug 2017

Lesenswert, so wie zuvor -
Starke Spannung trifft Humor!
(Krauses Dino-Fahrrad-Test fand eben statt -
Jetzt sind nicht bloß die Reifen platt ...)

LG Axel

29. Aug 2017

"Dino Krause", auf dem Fahrrad durch den Wald,
lässt nicht mal die coolste Wildsau kalt.

Dank, Axel, dir, für deinen Kommentar,
der heute wieder mal sehr witzig war.

LG Annelie

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