Tote erzählen aus einem Friedhof im südlichen Lappland

Bild von Willi Grigor
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Einleitung

Der kleine Ort Latikberg liegt ca. 20 km von Vilhelmina, dem Hauptort der gleichnamigen Gemeinde in der schwedischen Provinz Västerbottens län (der historischen Provinz Lappland), entfernt. Dessen Kirche liegt abgelegen und ist umgeben von Wald.

Hier sprechen die Toten direkt zu den Lebenden.
Einige sind authentisch, andere fiktiv. Aber etwas haben sie gemeinsam: die ungewisse Reise durch das Leben.

Während die Rentiere mit ihren Hufen auf die Gräber stoßen, erörtern sie alte Kränkungen, Begegnungen mit Elchen und träumen von Liebe in der Einsamkeit des Moorlandes. Großes gesellt sich zum Kleinen, und ein weggeworfenes Melkdiplom bekommt in diesem Chor von Stimmen die gleiche Dignität wie die Frage des Lebens an sich.

Wie die griechischen Epigrammdichter Jahrhunderte v. Chr., hat Börje Lindström - der in Latikberg aufgewachsen ist - den Toten hier eine Stimme gegeben, aber nicht jenen aus der obersten Hierarchie sondern den einfachen Menschen des Volkes.

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Helena Håkansons Interview mit Börje Lindström, Sommer 2020

Helena Håkanson:
Deine neue Gedichtsammlung heißt "På kyrkogården i södra Lappland" (Ein Friedhof im südlichen Lappland), ein Werk von über 180 Seiten. Wie kam es, dass du es schriebst?

Börje Lindström:
- Als ich sechs Jahre alt war, ertrank ein Mann aus dem Dorf, er hieß Uno Alenius (Uno Alenius). Er war auf dem Eis des Sees Bomsjön und fischte. An einer schwachen Stelle brach das Eis. Mit einem Draggen suchte man ihn mehrere Tage.
In meiner Fantasie schwamm Uno Alenius Körper wie ein Schatten im fünf Kilometer langen See umher, und zum Schluss in unterirdischen Bächen. Manchmal unter meinen Füßen.

Fand man seinen Körper?
- Ja, aber in meiner Fantasie floss er weiter unter dem Eis und unter der Erde. Dieses Bild verfolgte mich durch die Jahrzehnte. Kurz vor Weihnachten 2018 schrieb ich plötzlich ein Gedicht über Uno, in Ichform. Er war es also, der sprach. Nicht ich.
Sobald ich das Gedicht geschrieben hatte, wusste ich, dass ich über andere Toten schreiben wollte, und alle sollten im Friedhof des Ortes meiner Kindheit liegen.

Und einige von diesen Menschen waren also tot seit mehreren hundert Jahren?
- Nein, die Gegend in Lappland wo ich wohnte, gehört zu denen, die zuletzt von den Schweden kolonisiert wurden. Der Ort, in dem ich geboren bin, wurde erst Ende des 18. Jahrhundert gegründet. Erst 1934 wurde die Kirche errichtet. Der Friedhof kam erst 1958. Die ältesten Toten in diesem Friedhof wurden um 1875 geboren. Das südliche Lappland ist eine junge Provinz.

Nur wenige deiner Gedichte handeln um die dünn besiedelte Gegend und ihre Probleme.
- Ja, außer von einem Melkdiplom ( Mary Lindberg) und weggelaufenen Elchen (Arvid Sjöberg) u. a. handeln sie um existentielle Fragen. Fast alle Toten, die zu Wort kommen, stellen sich die Frage, was sie aus ihrem Leben machten, was war der Sinn ihres Lebens.

Und zu welchem Schluss kommen sie, was ist der Sinn des Lebens?
- Die Antworten sind verschieden, aber alle ringen mit dem großen Lebensrätsel, auch wenn einige es nicht zugeben wollen.
Eine Person (Henny Risberg) meint, der Sinn des Lebens ist, zufrieden mit dem Kleinen zu sein, eine andere (Klas Ove Lövström) will ein Geschäftsimperium bauen und missglückt, aber gibt nicht auf, nicht einmal im Tod, und eine weitere Person (Elvira Lindblad) sagt, so unbedeutend zu sein wie ein kleiner, trockener Wacholderstrauch, aber glaubt, dass das Leben dennoch einen Sinn hat. Es braucht nicht nur grandiose, großgewachsenen Menschen, sondern auch kleine Wacholdersträuche.

Viele der Gedichte sind ergreifend, man kommt den Lebensschicksalen der Toten nahe. Man blickt fast in deren Seelen, wie kamst du zu deren Geschichten?
- Sie kamen einfach zu mir, ich brauchte nur zu schreiben so schnell ich konnte. Das Gedicht über Uno (Uno Alenius) schrieb ich kurz vor Weihnachten 2018, aber dann wurde ich krank von einer starrköpfigen Virusinfektion. Ich war so müde, dass ich nicht viel schreiben konnte im Jahr 2019.
Anfang September dann wurde der Himmel etwas blau. Endlich konnte ich mich wieder an den Schreibtisch setzen. Die Finger sprangen wild über die Tastatur, wie Kühe, die nach dem Winter aus dem Stall gelassen werden. Sie schrieben und schrieben, ohne dass ich sie daran hindern zu konnte. Zwei Monate später hatte ich diese neue Gedichtsammlung fertig, ohne es selbst zu verstehen. Nie zuvor habe ich Gedichte in dieser rasenden Fahrt geschrieben.

Ist es ein Fantasiedorf, das du schilderst?
- Ja und nein. Es sind Personen unter den Toten, die wirklch lebten, die ich kannte und deren richtige Namen angegeben sind. Aber manchmal wurden Tote von anderen Friedhöfen zu dem Friedhof meines Kindheitsortes importiert, wenn man so sagen darf. Das sind also Personen, die im Ort wohnten, aber umgezogen sind und woanders begraben wurden.
Aber ich habe auch Personen erfunden. Zum Beispiel gab es, soweit ich weiß, keinen Buchsammler, der sein ganzes Haus mit teuren Büchern vollstopfte (Gunnar Jansson).
Um deutlich zu machen, dass es dennoch ein Fantasiedorf ist, wurde der Ortsname (Latikberg) nicht angegeben, obwohl der See Bomsjön und der Fluss Järvsjöån u. a. angegeben sind. Es ist nicht schwer zu verstehen, um welchen Ort es sich handelt. Erfundenes und Wirklichkeit liegen nahe aneinander.

Wie groß war das Dorf?
- Gut 350 Menschen, und das war viel.

In einem der Gedichte sagt ein Mann: Wenn man eine Tür öffnete purzelten Kinder heraus wie frisch geerntete Kartoffeln.
- Ja, das war unser Nachbar Sven (Sven Jonsson), er sagte dies einmal zu mir. Aber heute wohnen dort nicht einmal fünfzig Menschen.

Vermisst du den Ort?
- Ich und meine Freunde wuchsen auf in einer fantastischen Zeit, unsere Kindheit war wunderbar. Pferde schleppten das Holz aus den Wäldern, und die Menschen waren rechtschaffen. Niemand verschloss die Türen am Abend.
Einmal, vor einem Großfeiertag, stellte der Postbus-Chauffeur Burwall ein braunes Systembolag-Paket mit Alkohol auf das Podest für Milchkannen. Das Paket wurde aber nicht abgeholt.
Am Sonntag, als der Schnaps im Ort ausgetrunken war, defilierten die Männer mit sehnsuchtsvollen Blicken an dem einsamen, erhöhten Paket vorbei. Aber niemand nahm es mit, trotz des vorhandenen Durstes.
Es war eine sagenhafte Zeit in einer sagenhaften Welt. Auch wenn sie ihre wirklich dunklen Seiten hatte, was wohl aus den Gedichten hervorgeht.

Und in deinem Buch gibt es einen Schnapsliebhaber der stirbt, als der Nüchternheitsausschuss zu Besuch kommt?
- Ja, sein einziges Robbenloch, in dem er atmen kann in seinem Dasein, ist der

© Willi Grigor, 2020
Übersetzung des Buches von 2020 "På kyrkogården i södra Lappland" des schwedischen Dichters Börje Lindström. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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