Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 4

Bild von Volker Schlepütz
Bibliothek

Seiten

Sie würden dann in spätestens einem Jahr an Unterernährung sterben. Die Regierung empfand das als die humanste Art und Weise, die Kosten der Altenpflege zu senken, um die eingesparten Geldbeträge in eine sinnvollere Verwendung, zum Aufbau des Landes zu überführen. Und außerdem war der Tod in diesem Land kulturell bedingt ohnehin ein Akt der Befreiung, den niemand fürchtete. So wurde jeder Tod zwei Tage lang gefeiert, wie auch die Hochzeit und jeder Geburtstag zwei Tage gefeiert wurde. Es war also vollkommen egal in der Kultur von Land 8, ob man starb, heiratete oder Geburtstag hatte. Es waren zwei Tage der Freude, des Tanzes und der Genüsse in jeder Form, einem Rausch ähnlich. Es wurde gegessen und getrunken, es gab Sex in Gruppen, jeder durfte mit jedem Geschlechtsverkehr ausüben, für zwei Tage wurde eine Orgie gefeiert in der Region, die von der Heirat, einem Geburtstag oder einem Tod eines Mitmenschen betroffen war. So konnte es auch geschehen, dass in einer Region oder mehreren Regionen wochenlang gefeiert wurde und die Industrie heruntergefahren wurde. Es war eher selten, dass schon am dritte Tag jeder wieder seinem gewohnten Alltag nachging. Das war auch der Hauptgrund, warum es diesem Land so schlecht ging. Die kulturelle Tradition wollte niemand aufgeben und stand weit über den wirtschaftlichen Interessen in der Planungshierarchie. Doch zunehmend sah man in Regierungskreisen das Problem, dass diese Orgien zu oft stattfanden. Denn der Fund des neuen Rohstoffes und das Dekret der ZAS ließen der Regierung keine andere Wahl als schrittweise die kulturelle Tradition einer Transformation zu unterziehen.
Und dann gab es einen kleinen Teil der Bevölkerung, die nichts gegen das Volk der Schneemänner hatten. Das waren Kinder, die die Schneemänner lustig fanden und es waren einige Juden darunter, deren Großväter und Großmütter den Faschismus und den Holocaust überlebt hatten und nur kopfschüttelnd zusahen, wie sich der Faschismus in diesem Land zu wiederholen schien. Aber sie waren nur eine kleine Minderheit, etwa Zweihunderttausend schätzte die Regierung, die ihnen auch ein Dorn im Auge waren, deren Klugheit sie aber anerkannten und daher wertvoll für das Land fanden. Daher ließ man sie in Ruhe und bot ihnen die Chance, den Wiederaufbau des Landes zu unterstützen, sofern sie das wollten oder konnten. Und sie taten es auch, denn sie waren dankbar, dass sie in diesem Land leben durften. Ihnen wurde aber das Wahlrecht und das Antragsrecht entzogen, sie durften nur Geld verdienen und es entweder sparen oder ausgeben. So kann man sagen, dass im Prinzip der ganze wahlberechtigte Teil der Bevölkerung gegen das Volk war.
Die Regierung berief eine Kommission ein mit dem Namen: Die Zukunft der Schneemänner, was besser klang als es eigentlich war, denn beschlossen wurde tatsächlich deren Internierung weit oben im Norden in den dichten Wäldern. Es gab dort noch eine stillgelegte Kaserne aus dem dritten Weltkrieg. Dorthin sollten sie verfrachtet werden, etwa tausend Kilometer entfernt von der Hauptstadt, in der die Regierung ansässig war und die Hälfte der Bevölkerung wohnte. Es war der Wunsch der Bevölkerung, und die Regierung folgte diesem Wunsch in der Schlussdebatte, die gleichzeitig auch die Kommission wieder auflöste. Anstelle der Kommission wurde eine Abteilung gegründet, die aus etwa zwei Dutzend Männern, ehemalige Offiziere der Streitkräfte des Landes und Söldner, bestand. Sie verstanden die Sprache der Gewalt und waren mit den Methoden vertraut, wie man Menschen umerzieht.

2

Am 1. Mai 2090 beschloss die Regierung, das Volk der Schneemänner aufzuspüren und zu internieren. Dazu wurde in Region 1, wo sich die Regierungszentrale befand, ein provisorisches Zeltlager errichtet. Die Schneemänner sollten zunächst registriert werden, dabei spielten ihre Namen überhaupt keine Rolle, denn das hätte ihnen eine Identität gegeben, die sie von nun an nicht mehr hatten. Ihre Zukunft bestand aus einer Nummer, die ihnen wie Rinder als Brandzeichen auf die Stirn gebrannt wurde. Wichtig war es auch, das Geburtsdatum zu registrieren, weil dies nötig war, um Liquidationen vornehmen zu können, wenn sie entweder das 7. Lebensjahr noch nicht oder das 65. Lebensjahr erreicht hatten. Eine Verordnung über die Art der Liquidation stand noch aus. Sicher war aber, dass sie anders sterben sollten als die über 85jährigen, die in den Altenheimen einsaßen. Man hatte zunächst beschlossen, die Art der Eintreibung auf eine freiwillige Basis zu stellen. So wurden sie am 2. Mai mit Hilfe der Daten, die dem Einwohneramt vorlagen, angeschrieben. Man setzte sie in Kenntnis darüber, dass ein neuer Rohstoff per Dekret der ZAS erforscht und nutzbar gemacht werden müsse, ansonsten drohe ein zweiter Ressourcenkrieg gegen das Land, dem man sich nicht aussetzen wollte, zu lukrativ sei die Perspektive im Falle einer Befolgung des Dekrets. Dazu bräuchte das Land jedes Talent. Von vielen Seiten der Bevölkerung habe die Regierung Hinweise darauf erhalten, dass sie sich tanzend im Alltag zeigen und offensichtlich kreative Menschen seien. Diese Form der Kreativität brauche das Land dringend. Es wurden hohe Prämien ausgesetzt, mit denen diejenigen belohnt werden sollten, die Beiträge zur Erforschung des neuen Rohstoffes leisten. So sollten sie sich innerhalb von zwei Wochen reisefähig machen und sich auf dem Platz der Freiheit vor dem Regierungsgebäude einfinden. Die Reisefähigkeit sei nötig, um mit Wissenschaftlern des gesamten Landes zusammen arbeiten zu können, hieß es in dem Schreiben an die Schneemänner.
Mit dieser Strategie erhoffte sich die Regierung die Einsparung von Kosten einer gewaltsamen Zwangseintreibung, denn die wenigen Schneemänner waren im ganzen Land verteilt, und es würde Monate dauern, sie alle ausfindig zu machen. Aber so einfach schienen sich die Schneemänner nicht überlisten zu lassen. Die Schneemänner ahnten, dass das Schreiben nur ein Lockruf war, denn sie wurden von der Bevölkerung schon lange umgangen oder bespuckt, wenn sie auch nur in ihrer Nähe waren. Daher glaubten sie nicht daran, dass die Bevölkerung sie für kreative Menschen hielten und warteten ab. Sie waren gut vernetzt und waren mit den neusten Mobilfunktelefonen ausgestattet. Der gesamte Datenverkehr wurde bei einem Informatikstudenten aus ihrem Volk zentral gespeichert. Es war Gereon Rosenheim, bei dem die Kommunikation zentral verwaltet und archiviert wurde. Er wohnte in der Region 34 in der Nähe der Zementfabrik des Landes. Natürlich tanzten die Schneemänner nicht den ganzen Tag, sondern sie tanzten nur,

Seiten

Mehr von Volker Schlepütz lesen

Interne Verweise