Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 6

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sie tagelang nicht an ihren Bildern arbeiten konnte. Aber sie trug es mit Fassung und bedauerte, wie Gereon, die Arbeiterinnen wegen ihrer unterentwickelten sozialen Entwicklungsstufe. Im Projekt Nachhaltigkeit 2100 hatte sie die Aufgabe, mit Gereon gemeinsam Muster aus großen Datensätzen zu erkennen. Solche Datensätze sammelten die Schneemänner schon seit einigen Jahren aus dem öffentlich zugänglichen Amt für Landesstatistik und Prognose. Es waren eine Vielzahl von Wirtschaftskennzahlen, wie Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosigkeit, ökologischer Fußabdruck, Bevölkerungsentwicklung und Ressourcen, noch vorhandene Wassermengen an Süßwasser, jährliche Verkleinerung der Landfläche und eine Vielzahl anderer Daten. Thea sollte diese Daten auswerten und die geschätzte Lebenszeit der Menschheit errechnen, bei Konstanz aller Paramater, als eine Art IST-Wert der verbliebenen Lebensdauer der Menschheit. Gereon hingegen programmierte einen genetischen Algorithmus, um mögliche Szenarien zu entwickeln, wenn sich bestimmte Parameter ändern, was deutlich schwieriger war. Ziel des Projektes Nachhaltigkeit 2100 war es, einen Zustand des steady-state zu erreichen mit Hilfe einer perfekten Nachhaltigkeitsstrategie, die Verbrauch und Entnahme von Ressourcen im Gleichgewicht hielt. Die Zeit dafür war knapp. Es blieben noch 10 Jahre für diese größte Herausforderung der Menschheit und den verbliebenen 22 Staaten. Natürlich waren in den anderen 21 Staaten ebenfalls die klügsten Leute eines jeden Landes an Nachhaltigkeitsideen interessiert. Aber sie besaßen nicht den Rohstoff, der im Land 8 darauf wartete, erforscht zu werden. Und ob es in der Bevölkerung von Land 8 neben Gereon und Thea noch andere vergleichbar intelligente Menschen gab, war eher unwahrscheinlich. Würde es sie geben, hätten das die Schneemänner in Erfahrung bringen können, denn Gereon verstand sich hervorragend darin, Server zu hacken. Und bisher hatte er noch keine auffallenden Datenströme registriert, die darauf hinwiesen, dass sie an ähnlichen Strategien arbeiteten wie die Schneemänner. Daher waren sich die Schneemänner dank Thea und Gereon sicher, dass sie die einzigen waren, die daran arbeiteten, die Welt vor dem Untergang zu retten.
Gereon wohnte in einem Haus, dass nahe am Gesellschaftsraum 273 in der Region 16 lag. Im Keller des Wohnblocks hatte Gereon sich einen Raum eingerichtet mit einem Schreibtisch. Darauf stand ein Notebook, dass er sich aus Einzelteilen selbst zusammengebaut hatte und der mit dem leistungsfähigsten Prozessor ausgestattet war, den es gab. Eine ganze Wand des Raumes war mit modernsten Serveranlagen ausgekleidet, als befände man sich in einem hermetisch abgeriegelten Geheimdienstkeller tief unter der Erde. Dort war das Kommunikationszentrum der Schneemänner, und kein anderer als Gereon war in der Lage, dieses Hochleistungszentrum zu verwalten und stets auf den neusten Stand zu halten. Man hatte dafür eine große Summe Geld aufgebracht, die als Ersparnisse von den Schneemännern angehäuft worden waren. Die Bevölkerung wusste nicht, dass in diesem Kellerraum die gesamte Zukunft des Landes simuliert wurde. Sie wussten nichts von genetischen Algorithmen, sie wussten nicht, dass sich daraus Handlungsempfehlungen für die Regierung ableiten ließen, die einen großen Aufschwung und einen Sprung in die Entwicklungsstufe 4 ermöglichten konnte. Die Datenmenge war zu groß, um ein globales Optimum bestimmen zu können, aber der genetische Algorithmus war so klug programmiert, dass die lokalen Optima im Suchprozess nicht zu weit vom globalen Optimum abwichen. Gereon hatte schon im Alter von 8 Jahren ein Programm geschrieben, das errechnen konnte, wann die bewohnbare Landoberfläche bei einem ungelösten Klimaproblem so stark zusammenschrumpft, dass die Menschen in den 22 Staaten im Durchschnitt nur noch einen Radius von drei Metern Bewegungsfreiheit hätten. Ab diesem Radius, so wusste man aus der sozialpsychologischen Forschung, würde, bedingt durch die Enge, in jedem Land ein Bürgerkrieg um Ressourcen und Wohnflächen ausbrechen, der nach Computersimulationen von Gereon die Bevölkerung auf die Hälfte dezimieren würde. Und wenn sich diese Entwicklung fortsetzte, würde sich der Mensch in spätestens zweihundert Jahren selbst zerstört haben. Das Klimaproblem musste daher gelöst werden, und selbst dann war es obligatorisch, eine Bevölkerungspolitik zu verfolgen, welche die Anzahl der Menschen in den 22 Ländern konstant hält. So lag die Zukunft der menschlichen Existenz in den Händen von Thea und Gereon. Er und das Volk der Schneemänner wussten ganz genau, welche Zustände herrschten und wie sich das Land entwickeln könnte. Aber sie wollten ihr Wissen nicht preisgeben, selbst wenn sie selbst vernichtet würden, denn sie sahen täglich, mit welchem Hass sie konfrontiert waren, wenn sie sich tanzend durch den öffentlichen Alltag bewegten. Die Bevölkerung sollte sich selbst aus ihrem Elend befreien, und wenn sie dazu nicht in der Lage waren, dann sollte die Welt eben zugrunde gehen. Das Volk der Schneemänner fürchtet den Tod nicht. Für sie war es nur ein unendlich langer Schlaf. Und das war die Hauptanomalie der Schneemänner, die Gereon und Thea nicht verstanden. Da sie vollkommen rational waren, wollten Sie die Menschheit retten, auch wenn die Bevölkerung von Land 8 das nicht selbst konnte oder wollte. Aber diese Meinung führte nicht zum Konflikt mit den anderen Schneemännern, weil Gereon und Thea eben nicht mit anderen Menschen sprachen. Nur sie beiden unterhielten sich, wenn es um die Sache ging, nüchtern, emotionslos und zielführend. So blieb bis zur Entscheidung der Regierung vom 1. Mai 2090 noch ein Funke Hoffnung auf eine Rettung der Menschheit. Nun aber gab es für die Schneemänner keine Zukunft mehr, so schien es jedenfalls.
Die Bewohner saßen also völlig unwissend in den Gesellschaftsräumen und beklagten die Lage des Landes und sie ekelten sich vor den tanzenden Schneemännern. Auch die zum Gesellschaftsraum 273 gehörigen Bewohner saßen fast täglich an den Tischen und bohrten Löcher in die Fensterscheiben, als könne man damit etwas ändern. Und sie sahen auch den tanzenden Gereon an den Fenstern vorbeihuschen. Dann standen sie auf, gingen zu den Fenstern und trommelten so stark gegen die Scheiben vor Wut, dass einmal eine Fensterscheibe zersplitterte und in Tausend Einzelteile zerbrach. Es war Golko Fraud, der selbst ernannte Truppenchef des Gesellschaftsraumes, wie ihn die anderen Bewohner nannten, weil er so militärisch angezogen war und wie jemand sprach, der einer wilden Horde von neu angekommen Rekruten mit einer Flut von herausgebrüllten Befehlen das Zittern lehrt. Auch er hatte einen Antrag bei der Regierung gestellt. Und wäre er nicht mit einer starken Blutung an beiden Handgelenken versehen gewesen, die sofort behandelt werden musste, wäre er sicher Gereon hinterhergelaufen und hätte ihn in

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