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jetzt geriet ein mehrere Meter hohes Schwert in den Fokus, das sich direkt vor ihr befand, befestigt an einer metallischen Konstruktion. Irgendwie roch es an diesem Ort nach brennenden Öllampen. Neugierig erhob sich die Frau, in dem silberschwarzen Kleid und den gleichfarbigen Schuhen wie eine Statute wirkend. Die passende Kopfbedeckung ruhte direkt hinter ihr auf dem Boden.
„Wo bin ich?“
Auf einer Art kreisrunden Insel stehend, umgeben von einem gräulichen Weg, der außerhalb des von ihm gebildeten Rings in vier Richtungen zerfloss, nahm das anfängliche Staunen kein Ende, im Gegenteil … Irgendetwas blaues auf kleinen Rädern kam auf sie zu, gab dabei seltsame Geräusche von sich, fuhr mehrmals um die Insel herum und bog dann schließlich in entgegengesetzter Richtung ab.
„Wie kann das sein, so ganz ohne Pferde?“
Dieser Vorgang wiederholte sich in ähnlicher Weise mit verschiedenartigen Gefährten bis eines dieser sonderbaren Objekte anhielt. Jemand öffnete ein Fenster, offensichtlich um mit ihr zu kommunizieren.
„Karneval ist doch schon längst vorbei oder soll das hier etwa eine Werbeaktion sein?“
„Wer seid Ihr Fremder?“
„Ist alles in Ordnung?!“
„Hat man Euch geschickt, um mich zum königlichen Palast zu geleiten?“
„Du bist ja wirklich kreativ, eine solche Anhalterin hatte ich bisher noch nie … Also gut, steig schon ein!“
Anfängliches Zögern wurde schnell von gesteigerter Neugierde abgelöst. Sie hob den Hut auf, näherte sich dann vorsichtig dem sonderbaren Objekt und gedachte direkt hinter dem Kutscher einzusteigen, wenn man ihr denn …
„Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?!“
Leicht genervt stieg der Mann aus, öffnete der Fremden die Tür und nahm dann schnell wieder vorne Platz. Mehrere Gefährte bewegten sich zwischenzeitlich an ihnen vorbei, einige davon gaben sogar lange unangenehme Töne von sich.
„Jetzt komm doch endlich!“
Erhaben setzte sie sich auf die geräumige Hinterbank und beobachtete, wie eine Art Rad von dem äußerst seltsam gekleideten Herrn umklammert wurde.
„Mit offener Tür darf ich nun wirklich nicht fahren!“
Als sich hinten nichts tat, musste er noch einmal aussteigen, um selbst Hand anzulegen.
„Vom Anschnallen hältst du wohl auch nichts oder?!“
Sie verstand nicht, was der Kutscher von ihr wollte, außerdem lenkten jene seltsamen mehr oder weniger kleinen Dinge ab, die sich in dem Gefährt direkt vor und rechts neben dem Chauffeur befanden. Noch mehr Faszination löste allerdings die Erfahrung aus, tatsächlich ohne sichtbare fremde Hilfe fortbewegt zu werden und sich dabei staunend die vorbeiziehende Landschaft anschauen zu können.
„OK, dann vergessen wir eben den Gurt … Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin eine Dame, das sieht man doch!“
„Sorry, my Lady, aber einen Namen werden Sie wohl haben …“
Diese Art der Ansprache gefiel ihr schon deutlich besser, allerdings gestaltete sich die Gesamtsituation komplizierter als anfänglich gedacht, denn sie schien sich wider Erwarten doch nicht in einem fremden Land zu befinden, was alles Unbekannte vielleicht irgendwie hätte erklären können. Nicht nur die deutsche Sprache galt in diesem Zusammenhang als wichtiges Indiz … Eine freistehende Wand mit dem Gesicht einer hübschen Frau, die ein Parfümflakon neben sich stehen hatte, zog gerade an ihnen vorbei.
„Mein Name ist … Coco … und wie darf ich Euch nennen, werter Herr?“
„Lenny!“
„Wie meinen?“
„L-e-n-n-y!“
Welche Eltern nannten denn so ihren eigenen Nachwuchs und überhaupt, wo war sie hier eigentlich gestrandet oder ging es vielmehr um das Wann?
„Würdet Ihr mir bitte das aktuelle Jahr nennen?“
Statt zu antworten, begann Lenny lauthals zu lachen.
„Du spielst deine Rolle wirklich ausgesprochen gut, aber wegen mir kannst du ruhig damit aufhören.“
„Möchtet Ihr mich etwa beleidigen?!“
Während Coco wütend ihre Kopfbedeckung mit den Händen bearbeitete, hielt das Gefährt am rechten Rand des breiten Weges an, der exakt in der Mitte mit einer fortlaufenden gestrichelten Linie versehen war.
„Hör jetzt bitte sofort mit diesem Unsinn auf, hast du das verstanden!“
„Könntet Ihr mir bitte endlich meine Frage nach dem Jahr beantworten?!“
War die Anhalterin etwa psychisch auffällig oder vielleicht sogar entsprechend erkrankt?
„2021 …“
„Wie meinen?!“
„Wir haben immer noch das Jahr 2021!“
„So viele Jahrhunderte …“
Eine unglaublich verwirrende Gesamtsituation tat sich gerade auf, doch der Hof konnte ihr hoffentlich bald alle Fragen beantworten …
„Kutschiert Ihr mich bitte sofort zum königlichen Palast?!“
„Es gibt in dieser Gegend leider kein Schloss, geschweige denn irgendeine Burgruine …“
Lenny beobachtete im Innenspiegel wie sein Fahrgast die silbernen Handschuhe auszog. Am dafür vorgesehenen Finger ihrer linken Hand steckte ein auffälliger Rubinring. Die Dame streifte das Schmuckstück ab und gedachte es ihm offensichtlich zu geben.
„Bitte, es bedarf unbedingt einer Audienz beim König!“
„Was?! Wir sind hier doch nicht in England, mal davon abgesehen, dass dort eine Frau …“
„Mehr kann ich Euch leider nicht geben ...“
„Sag doch bitte endlich du zu mir … Außerdem möchte ich nicht von dir fürs Mitnehmen bezahlt werden!“
Sie ließ den silbernen Reif wieder zurück zum Ort seiner Bestimmung gleiten und versuchte vergeblich, sich ihr inneres Gefühl langsam aufkommender Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
„Alles OK?!“
„Ihr seid wirklich sympathisch …“
Anfänglich waren es lediglich einzelne Tränen, die sich erfolgreich ihren Weg bahnten, um dann an den hübschen, völlig symmetrischen Wangen entlang hinabzurinnen. Wie bei einem brechenden Damm erhöhte sich deren Intensität binnen kürzester Zeit. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, verließ Lenny den Fahrersitz und nahm anschließend direkt rechts neben Coco auf der Rückbank Platz, vorsichtig seinen linken Arm um sie legend. Ihr schien es derweil zunehmend schlechter zu gehen …
„Brauchst du vielleicht dringend Medizin?! Hast du etwas dabei?!“
„Nein …“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass weder Handtasche noch sonstige Accessoires vorhanden waren, in denen man unabhängig von der Kleidung etwas entsprechendes hätte aufbewahren können.
„Ich möchte einfach nur zum König …“
Er durchkämmte seinen reichhaltigen Erinnerungsschatz nach ähnlichen Situationen, wurde aber leider nicht fündig. Was nun? Notaufnahme? Polizei? … Nein, offensichtlich tat Lenny genau das Richtige, nämlich einfach nur für sie da zu sein.
„Soll ich dich nach Hause bringen?“
„Zum Schloss …“
„OK, so kommen wir wohl nicht weiter … Wir fahren erst einmal zu mir, OK?“
Die Dame nickte, ließ sich sogar von ihm anschnallen, wirkte dabei allerdings auffällig teilnahmslos …
„Sorry, aber ich bin leider gar nicht auf Besuch vorbereitet … Setz dich doch bitte in den Sessel dort drüben!“
Coco sprach immer noch kein einziges Wort, wie bereits während der gesamten Fahrt zu seiner Dreizimmerwohnung. Schnell wurden ein paar herumliegende Dinge beiseite geräumt, um diese dann diskret im angrenzenden Schlafzimmer verschwinden zu lassen.
„Möchtest du vielleicht etwas trinken?“
„Tee