Seiten
Vater abholen, der dieser Geschichte keinen Glauben schenken dürfte …“
„Entsprechend wären deine Heiratspläne dann wohl geplatzt …“
Freudestrahlend umarmte ihn die Gastgeberin, nachdem er ohne zu zögern seine Hilfe angeboten hatte ... Langsam stieg Lenny den erwähnten Baum hinauf, fand den einzigen halbwegs wertvollen Gegenstand im Nest des Tieres und kehrte damit sicher zurück.
„Ich danke Euch tausendfach!!!“
Tänzelnd hielt Waltraud den kleinen silbernen Löffel in den Händen. Das sympathische sommersprossige Gesicht strahlte wie bei einem Kind, dem man soeben Süßigkeiten geschenkt hatte.
„Folgt diesem Trampelpfad, er wird Euch zu einem Flüsschen führen. Vertraut dann dem Ruf Eures Herzens, denn nur so werdet Ihr auf die andere Seite gelangen können.“
Nach einer kurzen Verabschiedung setzte Lenny seinen Weg fort und erreichte bereits nach relativ kurzer Zeit das erwähnte fließende Gewässer.
„Und jetzt?!“
Es existierte keine Brücke, außerdem schien der Fluss unerwartet tief zu sein, von der reißenden Strömung ganz zu schweigen.
„Coco?!“
Am gegenüberliegenden Ufer stand tatsächlich jene silberschwarze Dame, ihre Arme zu einer willkommensheißenden Geste ausgestreckt.
„Geh schon zu ihr …“
Unmöglich, er konnte doch nicht einfach … Plötzlich war sie verschwunden …
„Wo bist du?!“
Mit geschlossen Augen versuchte Lenny seinen kritischen Verstand zu überlisten und konzentrierte sich auf die innere Stimme ...
„Ich komme jetzt zu dir!“
Es hatte funktioniert, denn Coco war exakt an derselben Stelle wieder zu sehen. Ihr Gesicht fixierend, setzte er einen Schritt vor den anderen. Etwa auf halben Wege wäre sein Schicksal besiegelt gewesen, da sich Unsicherheit Gehör verschaffte, doch das Herz war stärker und so kam er doch noch trockenen Fußes ans Ziel.
„Danke!“
Von der elegant gekleideten Frau fehlte derweil wieder jegliche Spur …
„Das glaubt mir doch kein Mensch …“
Auf dieser Seite des Flusses war die Vegetation deutlich bescheidener. Anstelle von Wald, geschweige denn Bäumen, gab es hier eine weitaus unebenere Landschaft zu bestaunen, bestehend aus Wildwiesen, chaotisch verteilten Büschen und Sumpfgebieten. Instinktiv ging Lenny mitten durch das Gelände, was sich als regelrechter Blindflug erwies, denn keinerlei zielführende Hinweise kreuzten seinen Weg. Nach gefühlten Stunden beschloss er zu pausieren, aß von dem mitgeführten Brot und löschte den Durst mit mehreren Schlücken Wasser.
„Verdammter Mist!“
Ein zuvor angeschlichenes Tier hatte es offensichtlich auf ihn abgesehen. Eilig wurde mit schnellsten Schritten davongelaufen, die Reste des verspäteten Mittagessens zurücklassend. Immer näher kam der Verfolger … Zwei im Weg stehende Büsche zwangen Lenny dazu, zwischen ihnen hindurchzuspringen. Statt jedoch sicher zu landen, versanken seine Beine in einem sich dahinter befindenden morastigen Untergrund, der unersättlich nach dem restlichen Körper des Eindringlings verlangte.
„Hilfe!“
Bis zur Schulter steckte er im Sumpf, die Arme verzweifelt in die Höhe streckend. Aus dem Nichts kommend, warf ihm jemand ein Seil zu, dessen anderes Ende bereits an einem Pferd befestigt worden war.
„Worauf wartet Ihr denn noch?!“
Ohne wertvolle Zeit zu verlieren, wurde der rettende Strang mit beiden Händen umklammert. Daraufhin spornte der silberschwarz gekleidete Reiter sein gleichfarbiges Ross an einige Meter zurückzulegen, um somit den Mann aus seinem Gefängnis zu befreien.
„Wie kann ich dir bloß danken?!“
„Ihr habt meiner Gebieterin bei der Flucht geholfen …“
Es war tatsächlich jener Mensch, mit dem Coco damals davonritt, als Lenny mit ihr auf der Außenterrasse jenes mitten im Nirgendwo liegenden Restaurants ein Eis gegessen hatte. Nur das Pferd musste damals definitiv ein anderes gewesen sein.
„So bleib doch bitte bei mir!“
Retter samt Tier hatten sich derweil offensichtlich in Luft aufgelöst …
„In welche Richtung …?“
Das Sumpfloch zurücklassend, ging es erst einmal vorsichtig durch unwegsames Gelände hindurch. Als wieder fester und vor allem sicherer Boden unter den Füßen zu spüren war, folgte er der recht kargen Vegetation in Richtung Sonnenstand, denn dies sollte die einzige Möglichkeit sein nicht wieder dort zu landen, wo man ihm gerade eben das Leben gerettet hatte. Dieser neue Landschaftsabschnitt schien einer Insel zu ähneln, umgeben vom Moor.
„Krass …“
Ohne Vorankündigung stand Lenny plötzlich am Rande eines Abgrunds, der den Blick auf eine tiefe Schlucht freigab. Hinunterzuklettern kam nicht infrage, da es viel zu gefährlich gewesen wäre.
„Der Ollinstrauch?!“
Wenige Meter entfernt befand sich direkt unterhalb der Kante ein Gewächs, an dem etwas einzelnes schwarzes in Erscheinung trat. Gespannt legte er sich an der besagten Stelle auf den Boden und bewegte seinen Oberkörper so lange nach vorne, bis dank der zittrigen Hände die auberginengleiche Frucht gepflückt werden konnte.
„Es ist der Kern …“
Hatte da gerade jemand etwas gesagt?
„Coco?!“
Auf der Schale der Frucht erschien plötzlich ihr unverwechselbares Antlitz.
„Händigt meiner Gebieterin bitte nicht Euren Fund aus. In dem wallnussgroßen Kern befindet sich nämlich eine magische Flüssigkeit, die Prinzessin Elisabeth heimtückisch kredenzt werden soll, nachdem ihr Lieblingsgetränk damit versehen worden ist. Trinkt die Thronerbin davon, so wird sie bis an das Lebensende von Sinnen sein und auf ewig in ihrem Zimmer eingesperrt werden müssen …“
Die Projektion verschwand und Coco stand binnen Sekunden leibhaftig vor ihm.
„Ich verliere bald ebenfalls meinen Verstand …“
„So hört lieber, was sich damals zugetragen hat … Einst fand Prinzessin Annabella jenen Euch bereits geläufigen schwarzen Edelstein im Park des königlichen Schlosses. Der Teufel persönlich muss ihn dort des Nachts hinterlegt haben. Als meine Gebieterin das Juwel berührte, durchfuhr ein Gefühl bis dato nicht gekannter Eifersucht ihre reine Seele. Die Zwillingsschwestern spielten zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Hund Adalbert. Aus einem nie zuvor gekannten Antrieb heraus schaute Annabella voll des Hasses in die Augen des Tieres, welches kurz darauf Prinzessin Elisabeth in das makellose Gesicht biss … Der Stein wurde von einem Goldschmied in Platin gefasst und bekam seinen Platz als wertvoller Anhänger an einer Halskette … Auch wenn es ähnliche Situationen nie wieder geben sollte, so nimmt Annabella seit jenem Tag ihre Schwester ausschließlich als Rivalin um den Thron wahr … Völlig unerwartet erwachte dann vor kurzem der dämonische Schmuck, verortete das alles entscheidende königliche Spiel um die Nachfolge bei Hofe in Eurem fremden Land und hauchte uns Schachfiguren leben ein …“
Coco konnte ihm alle noch offenen Fragen beantworten, was das Ganze zwar immer noch surreal erscheinen ließ, dafür aber in sich stimmig sowie in diesem Kontext nachvollziehbar machte.
„Geh bitte nicht wieder fort!“
„Ich existiere hier in meiner Welt lediglich als toter Gegenstand, bin nur das aus Silber gegossene Abbild einer Dame …“
„Aber du bist doch genau jetzt in diesem Moment bei mir!“
„Euer Herz ist es, das mir Leben einhaucht, gepaart mit den Erinnerungen an unsere vergangenen Begegnungen …“
Lenny genoss den wohlig warmen Moment der Zweisamkeit, dann offenbarte sie ihm mit bewegenden Worten, wie sein eigenes Schicksal und das der Prinzessinnen zum Guten gewendet werden konnte. Beide legten ihre Hände ineinander, wodurch eine Art Elektrizität seinen Körper durchfuhr. Die Umgebung verblasste zunehmend, sich allmählich mit dem überschneidend, was augenscheinlich dem Gemach von Prinzessin Annabella entsprach.
„Phantastisch …“
In der noch freien Hand die Frucht des Ollinstrauches haltend, begann die auf dem kleinen Tisch neben ihm verweilende silberschwarze Damenfigur dreimal kurz zu leuchten, als wolle sie sich endgültig von ihm verabschieden …
„Ihr seid doch am heutigen Morgen erst aufgebrochen …“
Annabella hatte den Raum zuvor betreten und fixierte jetzt mit gierigen Blicken das auberginengleiche Mitbringsel.
„Worauf wartet Ihr noch?! Gebt mir …“
„Nicht so schnell! Wer sagt mir denn, dass du dich an dein Versprechen halten wirst?“
„Ihr stellt das Wort einer Prinzessin infrage?!“
Ohne Vorankündigung warf Lenny das Objekt der Begierde auf den Boden, doch damit nicht genug, denn er ließ es anschließend dank eines heftigen beidfüßigen Sprungs zerplatzen. Rosafarbenes Fruchtfleisch verteilte sich daraufhin großzügig im Zimmer, wodurch das cremefarbige Kleid seines Gegenübers an gleich mehreren Stellen befleckt wurde.
„Dafür werdet Ihr büßen!“
„Dir geht es doch eh nur um den Kern oder besser ausgedrückt, du hast es auf die darin vorhandene Flüssigkeit abgesehen!“
„Wer hat Euch …?“
Der erwähnte wallnussgroße Gegenstand befand sich mittlerweile in seiner rechten Hand. Annabella stürmte ihm entgegen, rutsche dabei jedoch auf dem glitschigen Untergrund aus und landete zu Füßen des Mannes. Mit der noch freien Hand riss er ihr die Kette mit dem schwarzen Edelstein vom Hals, zerdrückte dann den Kern, um anschließend dessen öligen Inhalt auf der Oberfläche des Juwels zu verreiben.
„Beim König, was tut Ihr da?!“
Unangenehm heiß wurde der Stein, weshalb ihn Lenny abrupt fallen lassen musste. Kaum war der Boden entsprechend berührt worden, verließ pechfarbige Flüssigkeit die Platinfassung, um kurz darauf in Form von schwarzem Dampf den vollständigen Körper einer originalgroßen Frau abzubilden. Sie trug ein langes tiefschwarzes Kleid, hatte glühende Augen und Haare aus feurigen Flammen.
„Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist!!!“
Mit dem zerquetschten Fruchtfleisch malte Lenny einen Kreis um die bizarre Erscheinung, der sich anschließend wie von Geisterhand entzündete. Dort, wo jene Person bis gerade eben gestanden hatte, war jetzt ein furchteinflößendes Wesen zu sehen, halb Mensch, halb Tier, das langsam im Untergrund versank.
„Ihr seid allesamt erbärmliche Schwächlinge …“
Nachdem diese letzten Worte gesprochen worden waren, verschwand es vollständig. Beinahe zeitgleich betrat Prinzessin Elisabeth den Raum.
„Was ist geschehen?! Wer ist dieser Fremdling!“
„Meine liebe Schwester!“
Beide Prinzessinnen umarmten sich herzlich.
„Bitte vergib mir!“
Er schaute in das ihm zugewandte Gesicht von Elisabeth, bei dem die große Narbe auf der linken Wange allmählich verblasste, bis von ihr nichts mehr zu sehen war … Würden die beiden Frauen vielleicht irgendwann einmal gemeinsam auf dem Thron sitzen? Glücklicherweise regierte nach wie vor der König das Land, weshalb diese wichtige Entscheidung nicht in diesem emotionalen Moment getroffen werden musste …
„Mir wird auf einmal ganz schwindelig …“
Alles um ihn herum begann sich zu drehen. So als stehe er im Inneren eines Wirbelsturms, wurde Lenny von jenem märchenhaften Ort hinweggebracht, ohne auch nur ansatzweise Worte des Abschieds hinterlassen zu können …
An einen solch intensiven Traum konnte sich der Mann bereits seit sehr langer Zeit nicht mehr erinnern, falls dies überhaupt schon einmal der Fall gewesen sein sollte. Warum hatte er eigentlich die gesamte Nacht auf dem Sofa verbracht? Noch im Halbschlaf verweilend, wurde leicht taumelnd das angrenzende Schlafzimmer aufgesucht.
„Wow!!!“
Wie nach einer verabreichten Überdosis Koffein erwachten Körper und Geist, das Herz schlug rasend schnell. Die Seele empfing wohlige Wärme, ausgehend von dem Gast, der auf seinem Bett lag, gehüllt in ein silberschwarzes Kleid. Ehrfürchtig kniete er vor Coco und küsste den Ring an ihrer linken Hand, der mit einem Rubin versehen war. Rot wie die Farbe der Liebe …