Seiten
hörte das Durcheinanderschmettern der Vögel, das
schwellende und verhaltene Rauschen des ewigen Wasserfalls: aber es war
ihm, als ob er die Füße nicht auf dem Boden hätte, sondern steuerlos in
einem Wirbel von Lauten und Bildern vorwärts gerissen würde. Plötzlich
fand er sich in der Sakristei seiner Kirche, dann im Schiff vor dem
Hauptaltar, als er kniend die Jungfrau Maria um Beistand in den Stürmen
seines Innern anflehte.
Allein seine Bitten waren nicht in dem Sinne gemeint, daß sie ihn von
Agata befreien sollte. Ein solcher Wunsch hätte in seiner Seele keine
Nahrung gehabt. Sie waren vielmehr ein Flehen um Gnade. Die Mutter
Gottes sollte verstehen, vergeben, womöglich billigen. Jäh unterbrach
Francesco das Gebet und ward vom Altar fortgerissen, als ihm von
ungefähr der Gedanke, Agata könne davongegangen sein, ins Bewußtsein
schoß. Er fand das Mädchen indessen noch, und Petronilla leistete ihr
Gesellschaft.
»Ich habe alles ins Reine gebracht,« sagte Francesco. »Der Weg zur
Kirche und zum Priester ist frei für jedermann. Traue auf mich, das
Geschehene wird sich nicht wiederholen.« Ihn überkam eine Festigkeit
und Sicherheit, als ob er nun wieder auf rechtem Pfad und auf gutem
Grund stünde. Petronilla wurde mit einem wichtigen, kirchlichen
Aktenstück auf die Nachbarpfarre geschickt. Der Gang war leider
unaufschiebbar. Im übrigen möge die Wirtschafterin dem Pfarrer über
den Vorfall berichten. »Triffst du Leute, so sage ihnen,« betonte er
noch, »daß Agata von der Alpe oben hier bei mir im Pfarrhaus ist und
in den Lehren unsrer Religion, unsres geheiligten Glaubens von mir
unterrichtet wird. Sie mögen nur kommen und es verhindern und sich die
Strafe der ewigen Verdammnis aufs Haupt ziehen. Sie mögen nur einen
Auflauf vor der Kirche machen, um ihre Mitchristin zu mißhandeln. Die
Steine werden nicht sie, sondern mich treffen. Ich werde ihr mit
Einbruch der Dunkelheit, und sei es auch bis zur Alpe hinauf, selbst
das Geleit geben.«
* * * * *
Als die Haushälterin gegangen war, trat eine längere Stille ein. Das
Mädchen hatte die Hände in den Schoß gelegt und saß noch auf dem
gleichen, scheinbar zerbrechlichen Stuhl, den Petronilla für sie an
die weißgetünchte Wand gerückt hatte. In Agatas Augen zuckte es noch,
und die erlittene Kränkung spiegelte sich in Blitzen der Entrüstung
und heimlichen Wut, aber ihr volles Madonnengesicht hatte mehr und
mehr einen hilflosen Ausdruck angenommen, bis endlich ein stiller,
ergiebiger Strom seine Wangen badete. Francesco, ihr den Rücken
kehrend, hatte mittlerweile zum offenen Fenster hinausgeblickt.
Während er seine Augen über die gigantischen Bergwände des Soanatales,
von der schicksalsträchtigen Alpe an bis zum Seeufer, gleiten ließ
und, mit dem ewigen Summen des Falles, Gesang einer einzelnen,
schmelzenden Knabenstimme aus den üppigen Rebenterrassen drang, mußte
er zögern zu glauben, daß er nun wirklich die Erfüllung seiner
überirdischen Wünsche in der Hand hatte. Würde Agata, wenn er sich
wendete, noch vorhanden sein? Und war sie zugegen, was würde
geschehen, wenn er sich wendete? Müßte diese Wendung nicht
entscheidend für sein ganzes irdisches Dasein, ja, darüber hinaus
entscheidend sein? Diese Fragen und Zweifel bewogen den Priester, die
eingenommene Stellung solange, wie möglich innezuhalten, um noch
einmal vor der Entscheidung mit sich ins Gericht oder doch wenigstens
zu Rate zu gehen. Es handelte sich dabei um Sekunden, nicht um
Minuten: doch in diesen Sekunden wurde ihm nicht nur, vom ersten
Besuche Luchino Scarabotas an, die ganze Geschichte seiner
Verstrickung, sondern sein ganzes bewußtes Leben unmittelbar
Gegenwart. In diesen Sekunden breitete sich eine ganze gewaltige
Vision des jüngsten Gerichtes mit Vater, Sohn und heiligem Geist am
Himmel, über der Gipfelkante des Generoso aus und schreckte mit dem
Gedröhn der Posaunen. Den einen Fuß auf dem Generoso, den andern auf
einem Gipfel jenseit des Sees stand, in der Linken die Wage, in der
Rechten das bloße Schwert, furchtbar drohend, der Erzengel Michael,
während sich hinter der Alpe von Soana der scheußliche Satan mit
Hörnern und Klauen niedergelassen hatte. Fast überall aber, wo der
Blick des Priesters hinirrte, stand eine schwarzgekleidete,
schwarzverschleierte, händeringende Frau, die niemand anderes, als
seine verzweifelte Mutter war.
Francesco hielt sich die Augen zu und preßte dann beide Hände gegen
die Schläfen. Wie er sich dann langsam herumwandte, sah er das in
Tränen schwimmende Mädchen, dessen purpurner Mund schmerzlich
zitterte, lange mit einem Ausdruck des Grauens an. Agata erschrak.
Sein Gesicht war entstellt, wie wenn es der Finger des Todes berührt
hätte. Wortlos wankte er auf sie zu. Und mit einem Röcheln, wie das
eines von unentrinnbarer Macht Besiegten, das zugleich ein wildes,
lebensbrünstiges Stöhnen und Röcheln um Gnade war, sank er zerbrochen
vor ihr ins Knie und rang gegen sie die gefalteten Hände.
Francesco würde seiner Leidenschaft vielleicht noch lange nicht in
solchem Grade unterlegen sein, wenn nicht das Verbrechen der
Dorfbewohner an Agata ihr ein namenloses, heißes, menschliches
Mitgefühl beigemischt hätte. Er erkannte, was diesem von Gott mit
aphrodisischer Schönheit begabten Geschöpf in seinem fernen Leben und
in der Welt ohne Beschützer bevorstehen mußte. Er war durch die
Umstände heute zu ihrem Beschützer gemacht worden, der sie vielleicht
vom Tode durch Steinigung errettet hatte. Er hatte dadurch ein
persönliches Anrecht auf sie erlangt. Ein Gedanke, der ihm nicht
deutlich war, aber doch sein Handeln beeinflußte: unbewußt wirkend,
räumte er allerlei Hemmungen, Scheu und Furchtsamkeit hinweg. Und er
sah in seinem Geist keine Möglichkeit, seine Hand je wieder von der
Verfemten abzuziehen. Er würde an ihrer Seite stehen und stünde die
Welt und Gott auf der anderen. Solche Erwägungen, solche Strömungen
verbanden sich, wie gesagt, unerwartet mit dem Strome der
Leidenschaft, und so trat dieser aus den Ufern.
Vorerst war sein Verhalten indessen noch nicht die Abkehr vom Rechten
und die Folge eines Entschlusses, zu sündigen: es war nur ein Zustand
der Ohnmacht, der Hilflosigkeit. Warum er das tat, was er tat, hätte
er nicht zu sagen gewußt. In Wahrheit tat er eigentlich nichts. Es
geschah nur etwas mit ihm. Und Agata, die nun eigentlich hätte
erschrecken müssen, tat dies nicht, sondern schien vergessen zu haben,
daß Francesco ein ihr fremder Mann und ein Priester war. Er schien auf
einmal ihr Bruder geworden. Und während ihr Weinen zum Schluchzen sich
steigerte, ließ sie es nicht nur zu, daß der nun auch von trocknem
Schluchzen Geschüttelte sie, wie zum Troste, umfing, sondern sie
senkte ihr überströmtes Gesicht und verbarg es an seiner Brust.
Nun war sie zum Kinde geworden und er zum Vater, insoweit, als er sie
in ihrem Leid zu beruhigen trachtete. Allein er hatte nie den Körper
eines Weibes so nahe gefühlt, und seine Liebkosungen, seine
Zärtlichkeiten waren bald mehr,