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als väterlich. Deutlich empfand er
zwar, wie in dem schluchzenden Weh des Mädchens etwas, wie ein
Bekenntnis lag. Sie wußte, das erkannte er, welcher häßlichen Liebe
sie ihr Dasein verdanke und schwamm darüber mit ihm im gleichen Leid.
Ihre Not, ihre Schmerzen trug er mit ihr. So waren ihre Seelen
geeinigt. Allein er hob bald ihr süßes Madonnengesicht zu dem seinen,
indem er sie um den Nacken faßte und an sich zog, mit der Rechten die
weiße Stirn zurückbiegend, und indem er daran, was er so gefesselt
hielt, lange, mit dem Feuer des Wahnsinns im Auge, gierige Blicke
weidete, schoß er plötzlich, wie ein Falke, auf ihren heißen, von
Tränen salzigen Mund herab und blieb untrennbar mit ihm
verschmolzen. -- Nach Augenblicken irdischer Zeit, Ewigkeiten
betäubender Seligkeit, riß Francesco sich plötzlich los und stellte
sich fest auf beide Füße, auf seinen Lippen schmeckte er Blut --:
»Komm,« sagte er, »du kannst nicht allein, ohne Schutz, nach Hause gehn
und also werde ich dich begleiten.«
* * * * *
Ein wechselnder Himmel lag über der Alpenwelt, als Francesco und Agata
aus der Pfarrei schlichen. Sie bogen in einen Wiesenpfad, auf dem sie,
zwischen Maulbeerbäumen, unter Rebenguirlanden hindurch, ungesehen von
Terrasse zu Terrasse abkletterten. Francesco wußte sehr wohl, was
hinter ihm lag und welche Grenze jetzt überschritten war, Reue
vermochte er nicht zu empfinden. Er war verändert, gesteigert,
befreit. Die Nacht war schwül. In der lombardischen Ebene, schien es,
zogen Gewitter umher, deren ferne Blitze fächerförmig hinter der
Riesensilhouette der Berge aufstrahlten. Düfte des gewaltigen
Fliederbusches unter den Fenstern des Pfarrhauses schwammen von dort
mit dem vorüberkommenden, sickernden Wasser des Bachgeäders herab,
vermischt mit kühlen und warmen Luftströmen. Die beiden Berauschten
redeten nicht. Er stützte sie, so oft sie im Dämmer die Mauer zu einer
tiefer gelegten Terrasse abklommen, fing sie auch wohl mit den Armen
auf, wobei ihre Brust an seiner pochte, sein durstiger Mund an ihrem
hing. Sie wußten nicht, wo sie eigentlich hin wollten, denn aus der
Tiefe der Schlucht der Savaglia führte kein Weg zur Alpe hinauf.
Darüber indessen waren sie einig, daß sie den Aufstieg dorthin durch
die Ortschaft vermeiden mußten. Aber es kam auch nicht darauf an,
irgendein äußeres, irgendein fernes Ziel zu erreichen, sondern das
nahe Erreichte auszugenießen.
Wie war doch die Welt bisher so schlackenhaft tot und leer gewesen,
und welche Wandlung hatte sie durchgemacht. Wie hatte sie sich in den
Augen des Priesters, und wie hatte er in ihr sich verwandelt. Getilgt
und entwertet waren alle Dinge in seiner Erinnerung, die ihm bis dahin
alles bedeutet hatten. Vater, Mutter, sowie seine Lehrer waren wie
Gewürm im Staube der alten, verworfenen Welt zurückgeblieben, während
ihm, dem Sohne Gottes, dem neuen Adam, durch den Cherub die Pforte des
Paradieses wieder geöffnet worden war. In diesem Paradies, darin er
nun die ersten, verzückten Schritte tat, herrschte Zeitlosigkeit. Er
fühlte sich nicht mehr als ein Mensch irgendeiner Zeit oder
irgendeines Alters. Ebenso zeitlos war die nächtliche Welt um ihn her.
Und da nun die Zeit der Verstoßung, die Welt der Verbannung und der
Erbsünde hinter ihm lag vor der bewachten Pforte des Paradieses,
empfand er auch nicht mehr die allergeringste Furcht vor ihr. Niemand
da draußen konnte ihm etwas anhaben. Es lag nicht in der Macht seiner
Oberen, noch in der Macht des Papstes selbst, ihn auch nur am Genusse
der geringsten Paradiesesfrucht zu verhindern, noch ihm das geringste
zu rauben von der ihm nun einmal gewordenen Gnadengabe höchster
Glückseligkeit. Seine Oberen waren die Niederen geworden. Sie wohnten,
vergessen, in einer verschollenen Erde des Heulens und Zähneklapperns.
Francesco war nicht Francesco mehr, er war als erster Mensch soeben
vom göttlichen Odem geweckt, als alleiniger Adam, alleiniger Herr des
Garten Eden. Es lebte kein zweiter Mann außer ihm in der Fülle der
sündenlosen Schöpfung. Gestirne zitterten, himmlisch klingend,
Glückseligkeit. Gewölke brummten wie schwelgerisch weidende Kühe,
Purpurfrüchte strömten süße Entzückung und köstliche Labung aus,
Stämme schwitzten duftendes Harz, Blüten streuten köstliche Würzen:
allein dieses alles hing doch von Eva ab, die Gott als die Frucht der
Früchte, die Würze der Würzen zwischen all diese Wunder gesetzt hatte,
von ihr, die selber sein höchstes Wunder war. Aller Gewürze Duft, ihre
feinste Essenz hatte der Schöpfer in Haar, Haut und Fruchtfleisch
ihres Körpers gelegt, aber ihre Form, ihr Stoff hatte nicht
ihresgleichen. Ihre Form, ihr Stoff war Gottes Geheimnis. Die Form
bewegte sich aus sich selbst und blieb gleich köstlich in Ruhe, wie in
Wandlung. Ihr Stoff schien aus dem gemischt, aus dem Lilienblätter
und Rosenblätter gebildet werden, aber er war keuscher an Kühle und
heißer an Glut, er war zugleich zarter und widerstandskräftiger. In
dieser Frucht war ein lebendig pochender Kern, es hämmerten in ihr
köstliche, zuckende Pulse, und wenn man von ihr genoß, so schenkte sie
je mehr und mehr um so köstlichere, ausgesuchtere Wonnen, ohne daß ihr
himmlischer Reichtum dabei verlor.
Und was in dieser Schöpfung, diesem wiedergewonnenen Paradiese das
Köstlichste war, konnte man wohl aus der Nähe des Schöpfers herleiten.
Weder hatte hier Gott sein Werk vollendet und allein gelassen, noch
sich darin zur Ruhe gelegt. Im Gegenteil war die schaffende Hand, der
schaffende Geist, die schaffende Macht nicht abgezogen, sie blieben im
Werke schöpferisch. Und jeder von allen Teilen und Gliedern des
Paradieses blieb schöpferisch. Francesco-Adam, soeben erst aus der
Werkstatt des Töpfers hervorgegangen, fühlte sich als ein rings umher
Schaffender. Mit einer Entzückung, die außerweltlich war, spürte und
sah er Eva, die Tochter Gottes. Es haftete noch an ihr die Liebe, die
sie gebildet hatte, und der köstlichste aller Stoffe, den der Vater zu
ihrem Leibe verwendete, hatte noch jene überirdische Schönheit, die
durch kein Erdenstäubchen verunreinigt war. Aber auch diese Schöpfung
bebte, schwoll und leuchtete noch von der himmlischen Glut tätiger
Schöpferkraft und drängte, mit Adam zu verschmelzen. Adam wieder
drängte nach ihr, um gemeinsam mit ihr in eine neue Vollkommenheit
einzugehen.
Agata und Francesco, Francesco und Agata, der Priester, der Jüngling
aus gutem Haus und das verfemte, verachtete Hirtenkind, war das erste
Menschenpaar, wie sie Hand in Hand auf nächtlichen Schleichwegen zu
Tale kletterten. Sie suchten die tiefste Verborgenheit. Schweigend,
die Seele von einem namenlosen Staunen erfüllt, mit einem Entzücken,
das ihnen beiden fast die Brust sprengte, stiegen sie tiefer und
tiefer in das köstliche Wunder der Weltstunde.
Sie waren bewegt. Die Begnadung, die Auserwählung, die sie auf sich
ruhen fühlten, vermischte mit ihrem unendlichen Glück eine ernste
Feierlichkeit. Sie hatten ihre Körper gefühlt, waren im Kuß verbunden
gewesen, aber sie fühlten die unbekannte Bestimmung, der sie
zuschritten.