DER KETZER VON SOANA - Page 22

Bild zeigt Gerhart Hauptmann
von Gerhart Hauptmann

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eine bange Ruhe ein. Plötzlich
schlugen ans Ohr des Priesters dumpfe Geräusche, deren Ursache im
ersten Augenblick unbegreiflich blieb. Man war im Mai und doch klang
es, als wenn im Herbst ein Kastanienbaum, unter der Wucht eines
Windstoßes, Lasten von Früchten auf einmal abschüttelte. Platzend
trommeln die harten Kastanien auf das Erdreich.

Francesco beugte sich aus dem Fenster.

Er sah mit Entsetzen, was auf der Piazza im Gange war. Er war so
erschrocken, ja, so bestürzt, daß ihn erst der ohrzerreißende,
gellende Laut des Beichtglöckchens zur Besinnung brachte, an dem mit
verzweifelter Hartnäckigkeit gerissen wurde. Und schon war er in die
Kirche und vor die Kirchtür geeilt und hatte das Beichtkind, es war
Agata, vom Zug der Klingel weg und in die Kirche hineingerissen. Dann
trat er vor das Portal hinaus.

Soviel war klar: der Eintritt der Verfemten in den Ort war bemerkt
worden und geschehen, was in diesem Falle gewöhnlich war. Man hatte
versucht, sie mit Steinen, wie jeden räudigen Hund, oder wie man einem
Wolfe getan hätte, aus dem Wohnbereich der Menschen zu jagen. Bald
hatten sich Kinder und Mütter von Kindern zusammengetan und hatten das
ausgestoßene, fluchbringende Wesen gehetzt, ohne sich durch die schöne
Mädchengestalt irgendwie in der Annahme stören zu lassen, ihre
Steinwürfe gälten einem gefährlichen Tier, einem Ungeheuer, das Pest
und Verderben verbreite. Indessen hatte Agata, des priesterlichen
Schutzes gewiß, sich von ihrem Ziel nicht abbringen lassen. So war das
entschlossene Mädchen, verfolgt und gehetzt, vor der Kirchtür
angelangt, die jetzt noch von einigen geworfenen Steinen aus
Kinderhänden getroffen wurde.

Der Priester hatte nicht nötig, die aufgeregten Gemeindeglieder durch
eine Strafpredigt zur Besinnung zu bringen: sie verflüchtigten sich,
sobald sie ihn sahen.

In der Kirche hatte Francesco der hochatmenden, stummen Verfolgten
durch einen Wink bedeutet, mit ihm ins Pfarrhaus zu gehn. Auch er war
erregt, und so hörten sich beide stoßweise atmen. Auf einem engen
Treppchen des Pfarrhäuschens, zwischen weißgetünchten Mauern, stand
die bestürzte, doch schon wieder ein wenig beruhigte Schaffnerin, um
das gehetzte Wild zu empfangen. Man merkte ihr an, daß sie bereit zu
helfen war, wenn es irgendwie not täte. Erst beim Anblick der alten
Frau schien Agata sich des Demütigenden ihres augenblicklichen
Zustands bewußt zu werden. Vom Lachen zum Zorn, vom Zorn zum Lachen
übergehend, stieß sie starke Verwünschungen aus, und gab so dem
Priester Gelegenheit, zum erstenmal ihre Stimme zu hören, die, wie ihm
vorkam, voll, sonor und heroisch klang. Ihr war nicht bekannt, weshalb
sie verfolgt wurde. Sie sah das Städtchen Soana etwa wie ein Nest von
Erdwespen oder einen Ameisenhaufen an. So wütend und entrüstet sie
war, kam es ihr doch nicht in den Sinn, über die Ursache einer so
gefährlichen Bösartigkeit nachzudenken. Kannte sie doch diesen
Zustand von Kindheit an und nahm ihn für einen nur natürlichen.
Allein man wehrt sich auch gegen Wespen und Ameisen. Mögen es Tiere
sein, die uns angreifen, wir werden durch sie, je nachdem, zum Haß,
zur Wut, zur Verzweiflung empört und entladen die Brust, wiederum
jenachdem, durch Drohungen, Tränen oder durch Regungen tiefster
Verachtung. So tat auch Agata, während ihr nun die Haushälterin die
ärmlichen Lumpen zurecht zupfte, sie selber aber den staunenerregenden
Schwall ihres rost- bis ockerfarbenen Haares, das sich im hastigen
Lauf gelöst hatte, aufsteckte.

Wie nie zuvor, litt der junge Francesco in diesem Augenblick unter dem
Zwang seiner Leidenschaft. Die Nähe des Weibes, das, wie eine wilde,
köstliche Frucht, in der Bergödenei zur Reife gediehen war, die
berauschende Glut, die ihr erhitzter Körper ausströmte, der Umstand,
daß die bis dahin ferne Unerreichliche jetzt die Enge der eigenen
Wohnung umschloß, alles das brachte zuwege, daß Francesco die Fäuste
ballen, die Muskeln spannen, die Zähne zusammenbeißen mußte, um nur in
einer Verfassung aufrecht zu bleiben, die ihm das Hirn sekundenlang
völlig verfinsterte. Wurde es hell, so war ein ungeheurer Aufruhr von
Bildern, Gedanken und Gefühlen in ihm: Landschaften, Menschen,
fernste Erinnerungen, lebendige Augenblicke der familiären und
beruflichen Vergangenheit vermählten sich mit Vorstellungen der
Gegenwart. Gleichsam fliehend von diesen, stieg süß und schrecklich
eine unentrinnbare Zukunft empor, der er sich ganz verfallen wußte.
Gedanken zuckten über dies Bilderchaos der Seele hin, unzählbar,
ruhelos, aber ohnmächtig. Der bewußte Wille, erkannte Francesco, war
in seiner Seele entthront, und ein anderer herrschte, dem nicht zu
widerstehen war. Mit Grauen gestand sich der Jüngling, ihm war er auf
Gnade und Ungnade ausgeliefert. Diese Verfassung glich der
Besessenheit. Aber wenn ihn die Angst vor dem unvermeidlichen Sturz in
das Verbrechen der Todsünde überkam, so hätte er gleichzeitig vor
unbändigster Freude aufbrüllen mögen. Sein hungriger Blick sah mit
nie gekannter, staunender Sättigung. Mehr: Hunger war hier Sättigung,
Sättigung Hunger. Ihm schoß der verruchte Gedanke durch den Kopf, hier
allein sei seine unvergängliche, göttliche Speise, mit der das
Sakrament gläubige Christenseelen himmlisch nährt. Seine Empfindungen
waren abgöttisch. Er erklärte seinen Oheim in Ligornetto für einen
schlechten Bildhauer. Und warum hatte er nicht lieber gemalt?
Vielleicht konnte er selbst noch Maler werden. Er dachte an Bernardino
Luini und sein großes Gemälde in der alten Klosterkirche des nahen
Lugano und an die köstlichen, blonden, heiligen Frauen, die sein
Pinsel dort geschaffen hat. Aber sie waren ja nichts, verglichen mit
dieser heißen, lebendigsten Wirklichkeit.

Francesco wußte nun nicht sofort, was er beginnen sollte. Eine
warnende Empfindung veranlaßte ihn zunächst, die Nähe des Mädchens zu
fliehen. Allerlei Gründe, nicht alle gleich lauter, bewogen ihn,
sogleich den Sindaco aufzusuchen und, ehe es andere tun konnten, von
dem Geschehnis zu verständigen. Der Sindaco hörte ihn ruhig an,
Francesco hatte ihn glücklicherweise zu Hause getroffen, und nahm in
der Sache den Standpunkt des Priesters ein. Es war nur christlich und
gut katholisch, die Mißwirtschaft auf der Alpe nicht einfach laufen zu
lassen und sich des in Sünde und Schande verstrickten, verrufenen
Volkes anzunehmen. Was aber die Dorfbewohner und ihr Verhalten betraf,
so versprach er dagegen strenge Maßregeln.

Als der junge Priester gegangen war, sagte die hübsche Frau des
Sindaco, die eine stille, schweigsame Art zu betrachten hatte:

»Dieser junge Priester könnte es wohl bis zum Kardinal, ja, zum Papst
bringen. Ich glaube, er zehrt sich ab mit Fasten, Beten und
Nachtwachen. Aber der Teufel ist gerade hinter den Heiligen mit
seinen höllischen Künsten her und mit den verborgensten Schlichen und
Listen. Möge der junge Mann, durch Gottes Beistand, vor ihnen immer
behütet sein.«

Viele begehrliche und auch böse Weiberaugen verfolgten Francesco, als
er, mit so wenig wie möglich beschleunigtem Schritt, zurück zur Pfarre
ging. Man wußte, wo er gewesen war, und war entschlossen, sich diese
Pest von Soana nur mit Gewalt aufdrängen zu lassen. Aufrecht schreitende
Mädchen, die, Holz auf dem Kopf tragend, ihm auf dem Platze nahe dem
Marmorsarkophage begegneten, hatten ihn zwar mit unterwürfigem Lächeln
gegrüßt, sich aber hernach schnöde angesehen. Wie im Fieber schritt
Francesco dahin. Er

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