Der freie Wille

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Ungefähr in ihrem Alter musste dieser Jugendliche sein und er war offensichtlich damit beschäftigt einen Kanaldeckel zu öffnen.
„So wird das nichts. Da brauchst du schon eine Eisenstange, am besten mit Haken ...“
Ohne jegliche Regung, führte der Angesprochene einen abgebrochenen Ast durch eines der Löcher im Deckel und versuchte ihn damit anzuheben.
„Siehst du, Holz bricht nämlich schneller als …“
Erst jetzt schien er sie wahrgenommen zu haben und schaute genervt auf den Knick in der Mitte seines lädierten Astes.
„Hilf mir lieber, du Besserwisserin.“
„Nun, wenn jemand in die Unterwelt eindringen möchte, dann führt diese Person wohl eher nichts Gutes im Schilde.“
Wer war SIE eigentlich?
„Ich heiße übrigens Minea. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du dir erneut einen Namen für mich ausdenken solltest.“
Manche Fragen erübrigten sich scheinbar, noch bevor man sie stellte.
„Mein Name ist Ludo und spare dir jetzt bitte entsprechende Kommentare.“
„Ich habe doch gar nichts gesagt.“
Eigentlich wollte Minea ja ins Kino gehen, doch der Plan ihres sonderbaren Gegenübers schien mindestens genauso unterhaltsam zu werden.
„Was machst du da eigentlich?“
„Ich muss unbedingt etwas finden.“
Es konnte sich hier wohl nur um einen Schlüssel handeln, weshalb Minea seine sparsame Antwort erst einmal so stehen ließ.
„Mein lieber Ludo, du hast vielleicht gleich mehr Glück als dir lieb ist ...“
Noch bevor er über die Bedeutung ihrer Worte nachdenken konnte, lief sie bereits in Richtung einer ankommenden Straßenbahn älterer Bauart. Der Fahrer stoppte gerade und stieg mit langem Haken bewaffnet aus, um manuell eine Weiche zu stellen. Obwohl die Zeit drängte, konnte ihn Minea überreden, sein Werkzeug kurz zu verleihen.
In Windeseile wurde Ludo erlöst, denn mit vereinten Kräften befand sich der Kanaldeckel wenig später unmittelbar neben der freigelegten Öffnung.
„Ich bringe schnell noch unseren kleinen Helfer zurück.“
Völlig außer Atem winkte sie dem Bahnfahrer nach erfolgreicher Mission zu, der mit seinem quietschenden Gefährt bereits zur nächsten Haltestelle unterwegs war.
„Na los Ludo, jetzt mach schon!“
„Es gibt da ja gar keinen Auffangbehälter ...“
Die beiden Jugendlichen schauten sich einen Moment lang ratlos an.
„Also, ich bin bekanntlich ein Mädchen und außerdem ist es dein … Du weißt schon … Gerne stelle ich dir aber mein Smartphone für Erleuchtungen aller Art zur Verfügung.“
Vorsichtig stieg Ludo in den Schacht hinab, verzichtete dabei aber auf ihr Angebot, denn er wollte sich sicherheitshalber mit beiden Händen an den Sprossen festhalten.
„Hast du was gefunden?!“
„Kannst DU vielleicht mal deinen Kopf zur Seite schieben!“
Kurz darauf fiel deutlich mehr Tageslicht ein. Mit beiden Beinen stand er bereits im Schmutzwasser und tastete voller Ekel den Boden der Betonröhre ab.

„Ich dachte, du bist ein Mädchen ...“
„Sorry, aber ich konnte das Elend einfach nicht mehr von dort oben mitansehen.“
Minea leuchtete mit ihrem Smartphone, doch der Erfolg ließ weiterhin auf sich warten.
„Er ist weg ...“
„Hey Ludo, es gibt doch Schlüsseldienste, abgesehen davon, dass deine Eltern …“
Angewidert stapfte er an ihr vorbei und kletterte wieder nach oben. Minea folgte und gemeinsam bewegten die beiden Jugendlichen den Kanaldeckel wieder dorthin, wo er sich üblicherweise befand.

„Kann man euch vielleicht helfen?“
Minea war von dem hübsch geformten Gesicht der Fremden nicht weniger beeindruckt als Ludo.
„Schlechtes Timing, aber trotzdem danke.“
Ein schmaler Streifen in tiefem Schwarz kam oberhalb ihrer Stirn zum Vorschein und bildete den Übergang zum hautfarbenen Kopftuch.
„Ihr dürft ruhig weitermachen. Viel Erfolg dabei!“
Lächelnd drehte sie sich um und wollte gerade gehen, als sich ihr Ludo in den Weg stellte.
„Zeig mir mal deine Kette!“
„Warum? Was ist denn damit?“
Minea drängte sich dazwischen und entschuldigte sich stellvertretend.
„Deshalb konnten wir dort unten nichts finden, denn SIE hat ihn!“
Noch bevor die beiden Frauen verstanden worum es ging, riss Ludo der exotischen Jugendlichen die Kette vom Hals und umschloss jetzt das Schmuckstück mit geballter Faust. Schreie und Hilferufe erfüllten binnen Sekunden den Ort, weshalb sich ein Passant genötigt sah, aus sicherer Entfernung die Polizei zu verständigen.
„Knallst du eigentlich gerade völlig durch oder was!!! Los, gib ihr sofort die Kette mit dem Anhänger zurück!!!“
Ein Streifenwagen hielt unmittelbar am Tatort. Mittlerweile hatten sich mehrere Schaulustige eingefunden und beobachteten, wie zwei Beamte den widerstandlosen Ludo abführten. Das Diebesgut wurde derweil der Besitzerin zurückgegeben.
„Was machen Sie denn jetzt mit ihm?“
„Frau?“
„Mein Name ist Seyma, Seyma Haddad.“
„Frau Haddad, wir nehmen erst einmal seine Personalien auf und Sie sollten natürlich Anzeige erstatten.“
„Ich möchte das aber nicht.“
Die Polizisten schauten sich verwundert an.
„Hören Sie, er ist mein Ex-Freund und diesen Ring da an meiner Kette habe ich von ihm mal geschenkt bekommen … Ich bin wirklich nicht ganz unschuldig an der Situation … Unsere gemeinsame Freundin kann das bestätigen, nicht wahr?“
Alle Blicke ruhten jetzt auf Minea.
„Ja, ähm, so war es. Sey…, also, sie hat ihn beleidigt und daraufhin riss ihr Ludo die Kette vom Hals … Eine dünne Kette … Tat wohl auch nicht wirklich weh …“
Kopfschüttelnd ließen die Polizisten den Täter los.
„Frau Haddad, ist Ihnen eigentlich bewusst, was Sie da gerade tun?“
„Sorry, aber ich werde manchmal so schnell hysterisch und dann …“
Aus dem Polizeiwagen drang per Funk eine laute Stimme. Es folgten mahnende Worte und schließlich verschwand der Wagen so schnell wie er gekommen war. Verärgert gingen die Schaulustigen weiter und erbosten sich wahlweise über „die heutige Jugend“ und „diese Ausländerin“.

Minea brach zuerst ihr Schweigen.
„Warum hast du gelogen?“
Statt einer Antwort landete Seymas Hand in Ludos Gesicht.
„Dieser Ring gehörte meiner verstorbenen Oma … Du gibst mir jetzt sofort das Geld für eine neue Kette, denn die hier ist offensichtlich im Eimer.“
Noch während sie sprach, glitt ein breites goldenes Band mit grünen Symbolen über den entsprechenden Finger ihrer linken Hand und blieb dann an der gewünschten Position stecken. Die Kette verschwand zuvor nahezu unauffällig in Seymas Hosentasche. Derweil war Ludo bereits im Begriff des Weglaufens. Dummerweise stellte sich ihm nach wenigen Metern ein abbiegendes Auto in den Weg. Minea und Seyma waren schnell zur Stelle und hinderten den Jugendlichen erfolgreich an einer erneuten Flucht.
„Gestern Abend in den Nachrichten wurde mehrmals dein Ring eingeblendet und dieser Kanaldeckel da hinten direkt neben der Fahrschule. Dreimal wurde ich vom Sprecher aufgefordert, heute um punkt 16:00 Uhr an diesem Ort zu sein, um das Schmuckstück zu bergen. Sollte ich dies ignorieren, würde meiner kleinen Schwester etwas zustoßen … Der Ring soll um Mitternacht auf dem Zentralfriedhof übergeben werden. Wo

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