Der freie Wille - Page 4

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erlebt Ludo angeblich diese komische Sache mit der Nachrichtensendung und dann … Warum hat er eigentlich auf dem Nachhauseweg geschwiegen?“
„Minea, du bist echt sensibel wie eine Drahtbürste. Ludo war doch völlig weggetreten. Schock, Angst, was weiß denn ich …“
Noch einmal schilderte ihr Seyma detailliert die Ereignisse im Vorraum der Familiengruft. Minea versuchte derweil immer wieder logische Erklärungen für das Geschehene zu finden und gab dies dann in epischer Breite zum Besten.
„Klar, meinen Ring habe ich natürlich irgendwo anders verloren …“
„So meine ich das doch gar nicht!“
„An dieser Stelle lassen wir es besser erst einmal gut sein … Jetzt hilf mir mal lieber!“
Es war nahezu surreal, denn aus dem Inneren ihrer Handtasche kramte sie eine Friseurschere samt Haarschneidemaschine hervor.
„Du willst nicht wirklich …“
„Genau das!“
Gaffende Männer, eine nicht adäquate Kopftuchlösung, all dies war bestimmt nachvollziehbar, aber wie konnte sich eine solche Schönheit nur ihres naturgegebenen Schmucks berauben?
Um schnellstmöglich Fakten zu schaffen, nahm Seyma die Schere in die Hand, setzte sich auf einen Stuhl und begann mit dem Abschneiden einzelner Haarsträhnen.
„OK, ich helfe dir ja schon!“
Vorsichtig wechselte die Schere den Besitzer und binnen Minuten fiel das Werk mehrerer Jahre zu Boden.
„Du bist dir auch wirklich sicher den Haarschneider einsetzen zu wollen?“
Unter zurückgehaltenen Tränen nickte sie und Minea rasierte so lange bis der Kopf an allen Stellen gleichmäßig kahl geschoren war.
„Es soll ja hoffentlich keine dauerhafte Lösung sein … Friseurin werde ich übrigens schon mal nicht.“
Beide mussten jetzt lachen, obwohl ihnen eigentlich nicht danach zumute war. Beim Anblick der abgetrennten schwarzen Haare begann Seyma dann aber bitterlich zu weinen.

„Mach schon auf, wir wissen, dass du da bist!“
Es war mittlerweile früher Nachmittag. Auf Seymas Drängen hin hatten sie den Weg zur Wohngruppe mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Dort standen die beiden Frauen jetzt vor verschlossener Tür, obwohl man ihnen zuvor versicherte, Ludo in seinem Zimmer anzutreffen.
„Der wird doch wohl um diese Zeit nicht mehr schlafen?“
Minea antwortete nicht und besorgte stattdessen einen Zweitschlüssel. Eigentlich hätte sie den gar nicht bekommen dürfen, doch das Personal war an diesem Wochenende völlig unterbesetzt und andere Bewohner schienen zeitgleich mehr Aufmerksamkeit zu benötigen.
„Die bekommen hier auch nicht gerade viel mit.“
„Tja Seyma, genau das unterscheidet diesen Ort von einem Gefängnis.“
„Jetzt übertreibst du aber.“
Abgesehen von einer Stubenfliege, befand sich in dem Raum keinerlei Leben, geschweige denn menschliche Existenz. Das Bett fungierte wieder als improvisiertes Sofa und die beiden Jugendlichen ließen sich dort nieder, nachdem sie die Tür geschlossen hatten.
„Lass uns doch einfach hier auf ihn warten.“
Den Schlüssel gab Minea erst einmal nicht zurück, was die diensthabende Pädagogin wohl höchst wahrscheinlich erst später bemerken würde.
„Was machst du da?“
„Ich schließe ab. Ludo kann doch problemlos hereinkommen und andere Personen haben hier nichts zu suchen.“
Die Dreistigkeit ihrer neuen Bekannten hinterließ bei Seyma Kopfschütteln. Andererseits hatte Mineas Art schon auch etwas Faszinierendes.
„An dein neues Erscheinungsbild werde ich mich wohl niemals gewöhnen.“
„Jetzt mach es mir doch nicht so schwer.“
Demonstrativ senkte Seyma den Kopf und schaute sich verlegen den graublauen Teppichboden an. Irgendwie wirkte dieser bei genauer Betrachtung ein wenig uneben. Bewegte sich oben drauf eigentlich etwas oder spielten ihr die Augen nur einen Streich?
Noch in Gedanken versunken, schien der Raum derweil immer größer zu werden. Minea und sie saßen jetzt am Rande eines fußballfeldgroßen Sofas und sahen verängstigt hinab. Ein kleines Beben schubste die beiden Jugendlichen unangekündigt in die Tiefe. Statt weichen Stoffs, wartete am Ende des Sturzes salziges Meerwasser und starker Wellengang. Glücklicherweise war die Temperatur des Gewässers recht angenehm, was die Situation jedoch nicht wirklich erträglicher machen sollte. Beide ruderten panisch mit den Armen, versuchten zuerst gegen die Strömung zu schwimmen und mussten sich letztendlich völlig erschöpft treiben lassen.

Minea kam als Erste wieder zu sich.
„Wo sind wir?!“
Der Strand zog sich beidseitig unendlich lang in Richtung Horizont und bestand aus weißem Sand, so rein wie jener in Eieruhren. Seyma lag regungslos auf dem Rücken, atmete jedoch gleichmäßig.
„Hey, das ist mein Traum und ich bestimme somit was geschieht!“
Keinerlei Reaktion. Erst als sie an dem schlanken Körper rüttelte, stellte sich der Erfolg ein.
„Was soll das?!“
Als rationaler Mensch suchte Minea händeringend nach logischen Erklärungen, denn ein Traum schien dies hier wohl doch nicht zu sein. Ihr Handy erwies sich dabei als nutzloser Helfer, da es keinen Empfang gab.
Derweil richtete sich der kahlgeschorene Kopf auf und schaute sich um.
„Wunderschön!“
Eine Schicksalsgemeinschaft mit jemandem, der die Dinge in erster Linie vom Herzen ausgehend betrachtete … Hätte sie doch bloß Ludo mit seinem Kanaldeckel allein gelassen, dann wäre sie Seyma ebenfalls nie begegnet. Andererseits schien ihr diese Person sichtlich gut zu tun ...
„Ich habe echt keine Ahnung, wo und warum wir hier sind, aber es gibt sicherlich schlimmere Orte auf diesem Planeten.“
Seyma hörte nicht hin, sondern ließ lieber ihre Blicke schweifen. Unmittelbar hinter dem Strand befand sich eine Hochebene und in der Ferne wurden Berge sichtbar, deren Gipfel zum Teil mit Schnee bedeckt waren.
„Lass uns erst mal diese Steilküste hinaufklettern. Dort oben haben wir bestimmt einen besseren Überblick.“
Minea folgte ihr, benötigte jedoch im letzten Abschnitt des Weges Hilfe, um das Ziel sicher erreichen zu können.
„Sportlich bist du ja nicht gerade … Sieh dir das an … Verhungern werden wir jedenfalls schon mal nicht.“
Felder mit bunt gemischten Büschen und Bäumen soweit das Auge reichte. Es handelte sich ausnahmslos um scheinbar wild wachsendes Obst. Seyma pflügte eine nach Birne aussehende Frucht und biss herzhaft hinein.
„So etwas Leckeres habe ich lange nicht mehr gegessen.“
Vorsichtig tat es ihr Minea gleich.
„Willkommen im Schlaraffenland!“
Immer weiter durchstreiften die beiden Frauen den üppigen Wildgarten und kosteten dabei auch von anderen Gewächsen.
„Seyma, hörst du das auch?“
Wie aus dem Nichts, drangen hohe Stimmen an ihre Ohren. Nach wenigen hundert Metern bestätigte sich die erste Vermutung, dass es sich offensichtlich um Kinder handelte.
„Gib dir keine Mühe, die können uns anscheinend weder sehen noch hören.“
Minea schaute genauer hin. Irgendetwas stimmte nicht mit den kleinen Wesen. Köpfe und Gliedmaßen waren zweifelsohne Kindern zuzuordnen, doch der Rumpf leuchtete in einem goldgelben Licht, was die Frage nach deren mutmaßlicher Bekleidung offen ließ.
„Aus welchem Labor sind die denn entflohen oder habe ich etwa die eine oder andere technische Neuerung verpasst?“
„Minea, jetzt hör schön auf mit dem Sarkasmus

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