Der freie Wille - Page 9

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gebracht. Dort wurdest du digitalisiert und hast im Anschluss als quasi autonome Animation diese Welt hier erschaffen …“
„Moment mal ... Angenommen, Menschen aus meinem realen Umfeld würden plötzlich hier auftauchen … Wäre das möglich?“
Blaise verlor für einen kurzen Moment sein souveränes Auftreten.
„Wen meinst du denn? Digitalisiert wurde meines Wissens niemand mehr … Vielleicht wären es dann, deiner Hypothese folgend, bloß Personen aus entsprechenden Träumen oder Erinnerungen, die deine Phantasie mit dieser Welt hier verwoben hätte ...“
Minea bekam den Impuls sich in das Gespräch einzumischen, doch der schwarz gekleidete Mann konnte sie ja nicht wahrnehmen.
„Meine Aufgabe bestand darin, herauszufinden, ob es wirklich so etwas wie einen freien Willen gibt. Da du mich aus dem Fernsehen und der Familiengruft kanntest, haben wir dich dahingehend manipuliert, mich quasi als pseudoerschaffenes Wesen in deine neue Welt hier zu entsenden und zwar so, dass es dir nicht wirklich bewusst werden konnte … Wir haben also deine Erinnerung an mich gezielt als Eintrittskarte missbraucht … Wahnsinn, ich brauchte lediglich eine deiner Kreaturen zu verführen und habe dadurch eine ungeahnte Kettenreaktion in Gang gesetzt, die von unseren Programmierern nicht mehr rückgängig gemacht werden kann … Es bliebe natürlich noch die Option einfach den Stecker zu ziehen, aber dann wäre sehr viel Geld verbrannt und unser Institut müsste wohl für immer die Türen schließen ...“
Ludo sank zu Boden und hätte am liebsten laut aufgeschrien, in der Hoffnung, dadurch aus diesem Albtraum fliehen zu können.
„Kopf hoch, ich habe mir nämlich ein besonderes Finale einfallen lassen, um das Experiment doch noch erfolgreich enden zu lassen. Da du mir irgendwie sympathisch bist, wollte ich mich vorher aber unbedingt persönlich von dir verabschieden …“
Blaise verschwand so plötzlich wie er gekommen war. Minea schaute im selben Moment Seyma an, deren Gesicht mit Tränen befleckt war.
„Wir existieren hier also nur dank Ludos Erinnerungen an uns … Wie abgefahren ist das denn?“
Seyma hörte nicht zu, setzte sich neben Ludo und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

Kupfernes Glühen ergoss sich über den westlichen Teil des Himmels. Es war kurz nach Sonnenuntergang und in der kleinen Arena stieg die Spannung bis zum Siedepunkt. Ausgeleuchtet in kräftigem Rot, wirkte der Ort sehr majestätisch, passend zu den anwesenden zwölf Staatsoberhäuptern, die auf der Ehrentribüne Platz genommen hatten. Königin Kyrelia ergriff als Gastgeberin das Wort und sprach zu den etwa tausend geladenen Gästen mit Hilfe einer Flüstertüte aus purem Gold.
„Sehr verehrte Hoheiten, liebe Gäste, heute ist ein historischer Tag, denn der Friede zwischen unseren Völkern wird auch in Zukunft fortbestehen!“
Die Menge jubelte und applaudierte. Nur zwei Jugendliche überlegten, wie sie ihren gut bewachten Freund aus dieser scheinbar ausweglosen Situation befreien konnten. Ludo stand derweil im Zentrum der Arena und wurde jetzt von einem hellen Spot angeleuchtet.
„Schaut auf diese Kreatur dort unten! Dieser Mann hat sich in unser Land geschlichen, um euch alle zu verführen! Seht ihn euch ruhig genau an, denn er ist der größte Feind des Friedens! Eine Revolte gegen mich persönlich hat er anzetteln wollen und glaubt mir, diese Revolte hätte an unseren Grenzen nicht Halt gemacht! So frage ich euch nun, was soll mit ihm geschehen?!“
Wirklich jeder hatte sich mittlerweile von seinem Platz erhoben und streckte eine oder sogar beide Fäuste in die Höhe. Erst hörte man lediglich vereinzelte Rufe, doch bereits nach kurzer Zeit vereinten sich die vielen Stimmen zu einem lautstarken Chor.
„Tod dem Verräter!!!“
Genüsslich schwenkte Königin Kyrelia ihren Arm im Takt dieser Worte und ließ die Zuschauer einige Minuten gewähren. Dann bat sie um Aufmerksamkeit und fuhr fort.
„Ihr habt entschieden! Verehrte Hoheiten, liebe Gäste, hiermit verurteile ich diesen Mann zum Tode!“
Lautes Jubeln setzte wie auf Kommando ein. Die geladenen Staatsoberhäupter fühlten sich von ihrer Gastgeberin auffallend gut unterhalten und so mancher überlegte bereits, womit man dieses Schauspiel bei zukünftigen derartigen Zusammenkünften noch übertreffen könnte.
„Seyma, bleib stehen, wir können ihm nicht mehr helfen!“
Minea hielt sie genau in dem Moment fest, als der mutmaßliche Vollstrecker des Urteils die Arena betrat. In den Händen hielt er einen goldenen Pokal und schritt damit würdevoll auf Ludo zu. Kurz bevor das Ziel erreicht wurde, kam es zum kurzen Blickkontakt mit der Königin, die zustimmend nickte. Dann reichte man dem Verurteilten den Kelch und dieser goss widerstandslos das vergiftete Getränk in seine Kehle.
„Ludo!!! Neeein!!!“
Seyma riss sich los und lief so schnell sie konnte zu ihm. Ludo lag jedoch bereits regungslos auf dem steinigen Boden.
Minea schaute derweil sichtlich irritiert in Richtung Himmel, denn dort herrschte plötzlich gänzliche Schwärze. Kein Mond, keine Sterne, geschweige denn letzte Anzeichen des jüngsten Tag-Nacht-Wechsels. Arena, Zuschauer, Häuser, Bäume, sogar das Gebirge, alles war jetzt nur noch die Summe zusammengesetzter Pixel, die wie Staub hinab auf die Erde schneiten und sich dabei auflösten. Auch der Untergrund wich mit schnell steigendem Tempo. Zum Vorschein kam ein als provisorisches Sofa fungierendes Bett …

„Minea?! Gott sei dank! Du glaubst ja gar nicht, was …“
„Ja, wir sind wieder zurück in Ludos vier Wänden, falls dieser Raum von uns überhaupt jemals verlassen worden ist ...“
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass nahezu keine Zeit vergangen war. Es folgte ein reger Austausch über das gemeinsam Erlebte.
„Deine Haare …“
Seyma strich sich über den Kopf.
„Was soll damit sein?“
„Eben nichts, du bist wieder frisch geschoren … In der Arena hattest du nämlich gut sichtbare schwarze Haarstoppeln, bestimmt ein bis zwei Zentimeter lang …“
Schweigend bewegte sich Minea jetzt ziellos durch den Raum und dachte nach.
„Wir müssen noch mal zurück in diese Familiengruft.“
„Da kannst du aber gerne allein hingehen ...“
Sie setzte sich wieder auf das Sofa und legte einen Arm um Seymas Taille.
„Erinnerst du dich noch an Blaises Auftritt in der Gefängniszelle?“
„Wie soll man diese unangenehme Person denn vergessen?“
„Wenn das auf dem Friedhof von dir und Ludo Erlebte nur Tricktechnik war, dann …“
Jetzt ahnte Seyma, worauf Minea hinaus wollte. Sie übergaben zuerst den Zimmerschlüssel wieder der diensthabenden Pädagogin und verließen dann die Wohngruppe. Beide hatten das Bedürfnis nach frischer Luft und gingen entsprechend die Hälfte des Weges zu Fuß.

Der Eingang zur Familiengruft war mit einem türartigen Gitter versperrt. Minea ließ sich davon nicht beeindrucken und rüttelte an den Stäben.
„Na, wer sagst denn. In der vergangenen Nacht hat man dieses Teil bestimmt einfach ausgehängt und beiseitegestellt. Nur gut, dass es nicht mit einem Schloss versehen worden ist.“
Akribisch wurde im Inneren der gesamte Vorraum abgesucht, besonders die Fläche in unmittelbarer Nähe jener Eisentür, vor der sich die nächtliche Szenarie abgespielt hatte.
„Da ist er ja!!!!“
Glücklich hob Seyma den unversehrten Goldring auf und schmückte damit ihre linke Hand.
„Blaise hat also nicht gelogen.“
Endlich lösten sich Schritt für Schritt die Rätsel der vergangenen vierundzwanzig Stunden. Minea hatte derweil ihren Glauben an die Naturgesetzte wiedergefunden, auch wenn das sonderbare Experiment immer noch einige Fragen offen ließ, vor allem, was Ludos Aufenthaltsort betraf.

Sie wollten gerade in eine Straßenbahn einsteigen und zu Minea nach Hause fahren, als Seyma einem der aussteigenden Fahrgäste hinterherschaute.
„Spinne ich jetzt völlig oder war das etwa wirklich …“
Er bemerkte rechtzeitig seine beiden Verfolgerinnen und erhöhte daraufhin das Tempo. Die Straße war an dieser Stelle ein wenig abschüssig und uneben. Ausgestattet mit guter Kondition, wuchs der Abstand zwischen ihm und den Jugendlichen rasant an. Unscheinbar, aber folgenschwer, ragte ein in der Straße ruhender Pflasterstein leicht heraus und setzte sich somit um wenige Zentimeter von dem übrigen Belag ab. Der Mann stolperte über das Hindernis, fiel zu Boden und wurde entsprechend schnell von den Frauen eingeholt.
„Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum uns dieser Nunzio damals eigentlich sehen konnte, denn er ist doch auch von Ludo erschaffen worden, denn Teil seiner Erinnerung, wie wir es ja angeblich gewesen sind, war der Bote wohl offensichtlich nicht …“
Schmerzverzerrt richtete er sich langsam auf. Sein Knie tat ihm weh, aber ernsthafte Verletzungen schienen nicht vorhanden zu sein.
„Gratuliere, du bist ja anscheinend wirklich so eine Art weiblicher Sherlock Holmes …“
Nunzio hieß eigentlich Matthias und war einer der Programmierer, die das Experiment erst möglich gemacht hatten. Entgegen seiner Verpflichtungen und trotz Androhung hoher Strafen, digitalisierte sich Matthias eigenmächtig zu dem Zeitpunkt, als Ludo seinen siebten Boten erschaffen wollte und gab dann vor, das gewünschte Ergebnis zu sein. Ihm ging es in erster Linie darum, die drei Jugendlichen zusammenzuführen, weshalb er auch nach geglückter Mission wieder verschwand.
„Welche Rolle spielt Blaise? Ist er etwa der Chef des Ganzen?“
Matthias nickte. Während Seyma sich immer mehr verwirrt fühlte, setzte Minea bildlich das letzte Puzzlestück vor ihrem geistigen Auge ein und triumphierte.
„Du führst uns jetzt sofort in dieses Institut!“

Endlich war der Spuk vorbei. Die Idee den Schöpfer sterben zu lassen, hatte die gesamte Schöpfung vernichtet und das außer Kontrolle geratene Experiment zwar anders als erhofft beendet, aber letztendlich erfolgreich. Somit konnte Blaise im letzten Moment seinen Hals aus der Schlinge ziehen.
Um die beiden Frauen gedachte er sich später zu kümmern. Jetzt musste erst einmal Ludo neutralisiert werden. Dieser lag auf einer Trage, Arme und Beine sowie die Taille entsprechend fixiert. Nachdem man ihn vor wenigen Stunden mit Hilfe eines Transporters entführte, betäubte und schließlich ins Institut gebracht hatte, wurde er umgehend in einer speziell dafür erfundenen Röhre digitalisiert. Seitdem lag er ruhig atmend da, was sich in diesem Moment ändern sollte …
„Wo bin ich?“
Blaise zog derweil eine Spritze auf. Die Substanz konnte bereits nach wenigen Minuten nicht mehr im Körper nachgewiesen werden und war binnen Sekunden absolut tödlich. Im Anschluss sollte dann die Leiche unauffällig entsorgt werden.
„Echt schade mein lieber Ludo, du hast deinen Job nämlich wirklich gut gemacht. Mit deinem digitalisierten Abbild zusammenzuarbeiten war eine bereichernde Erfahrung, die ich wohl so schnell nicht mehr machen werde … Ich kann mich jetzt natürlich auch noch anders entscheiden … Du weißt schon, der freie Wille und so … Wenn das hier auffliegt, haben aber leider relativ viele Leute ein Problem … Da gehe ich doch lieber auf Nummer sicher und bleibe Pragmatiker …“
Ludo bewegte sich, aber die Gurte waren deutlich zu fest geschnallt.
„Irgendwann werden wir alle Regionen im Gehirn exakt bestimmen können, die uns zu dem machen, was wir sind und dann dürften winzige Computerchips die Menschen so steuern, dass eine absolute Kontrolle möglich ist und wirklich gar nichts mehr auf dieser Welt dem Zufall überlassen werden muss …“
„Dumm nur, dass die Menschen keine Maschinen sind und ohne soziales Miteinander innerlich verwelken, wie Blumen, denen man das Wasser entzieht!“
Zuvor war die Flügeltür aufgesprungen und Matthias, dessen Worte noch deutlich nachhallten, näherte sich jetzt Blaise. Dieser griff geistesgegenwärtig nach der Spritze und richtete die Nadel auf sein Gegenüber. Im Verlauf des Handgemenges landeten die beiden Männer unfreiwillig auf dem Boden und kämpften dort weiter. Minea und Seyma nutzen die Ablenkung, um zeitgleich ihren Freund von seinen Fesseln zu befreien. Gerade als es Blaise gelang, Matthias mit gezielten Griffen zu fixieren, konnte Ludo endlich die Trage verlassen und in das Geschehen eingreifen. Mithilfe der beiden Frauen schubste er Blaise zur Seite und nahm die mittlerweile auf den Fliesen liegende Spritze an sich.
„Warum ich jetzt nicht zusteche? Weil etwas tief in meinem Inneren mich davon abhält …“
Blaise ergab sich der zahlenmäßigen Überlegenheit und musste dann mitansehen, wie die Spritze in einem an der Wand installierten Waschbecken geleert wurde. Matthias hatte sich derweil wieder aufgerichtet.
„Mit der Sache gehe ich an die Öffentlichkeit und du wanderst mit Sicherheit ins Gefängnis!“

Binnen weniger Wochen feierten erst Seyma, dann Ludo und schließlich Minea ihre Volljährigkeit. Die drei Jugendlichen lebten mittlerweile zusammen in einer Wohngemeinschaft.
„Des Staates Hand hat sich ja mal wieder schützend über die sinnlose Verschwendung von Steuergeldern ausgebreitet … Was man mit dieser Kohle alles hätte machen können ...“
Minea war immer noch wütend.
Matthias Engagement erreichte zwar die Schließung des Institutes, aber die wahren Vorgänge hinter jenen Mauern blieben nach wie vor unter Verschluss. Das war der Deal, den er nicht zuletzt wegen Frau und Kindern eingehen musste. Immerhin verurteilte ein Gericht Blaise zur Gefängnisstrafe wegen versuchten Mordes, doch die Regierung würde wohl auch dessen Schweigen üppig vergüten. Ludo bekam ebenfalls eine Entschädigung und musste sich natürlich als Gegenleistung verpflichten, seinen Mund zu halten.
„Warum bekommen wir eigentlich kein Geld?“
„Seyma, wer sollte uns denn schon glauben. Diese Geschichte ist so abgefahren, dass sie selbst in Hollywood nicht verfilmt würde.“
Beide Frauen mussten jetzt lauthals lachen.
„Wo ist eigentlich dein Freund?“
Verlegen spielte Seyma mit der Halskette, die ihr Ludo zum Geburtstag geschenkt hatte.
„Der besucht heute seine ehemalige Wohngruppe.“
„Schön übrigens, dass du dir deine Haare wieder wachsen lässt ...“
„Tja, sollen die anderen Männer doch ruhig gaffen. Ich weiß ja jetzt, wo mein Platz ist …“

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