Lebenskünstler M: Vorrecht des Wissenden - Page 2

Bild von Klaus Mattes
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ein Pinkel sein. Dunkelblondes, sorgfältig gewelltes Haar, schmales Gesicht, nicht hässlich, mir jedoch vollkommen zuwider. Wie er sein goldenes Feuerzeug befingert und abfällig rüber zur Küchentüre linst, als sei die zum Diktat beorderte Bedienstete da drin noch abgängig.

Zeuge der Trauer eines Menschen werde ich, eines Menschen, welcher sich beschissener fühlt als ich mich. Die plumpsackige Figur macht Hans ein kleines Zeichen und ordert mehr Weizen. Dann sackt sie in sich, Doppelkinn und fliehende Schultern. Gelegentlich sieht sie wie barmend um sich. Da guckt keiner hin. Ich setze teilnahmsvoll ein Lächeln auf. Das Wesen antwortet mit dem Ausdruck tiefster Verwundung. Fettsüchtige Jungtunte, brutal abgeschrieben von leichtlebigem Freund. Ja, wundert es einen?

Niemals habe ich jemanden angemacht in dieser Kneipe. Dieses könnte heute Nacht das erste Mal werden. Leichter als jetzt dürfte das Geschäft mir so bald nicht kommen. Selbst ohne Tränenandrang wäre das Wesen vis-à-vis eines, das drei Monate auf dem Hocker sitzen könnte, niemand würde es zur nachweisbaren Kenntnis nehmen, nur ich alleine. Mit dem Kehrbesen würde man drumrum wischen, falls der Boden in diesen drei Monaten mal gefegt würde.

Er hat was gemerkt und dreht sich mir zu. Ich lächle ihm zu und nicke. Er dreht sich weg. Warum aber auch nicht, denke ich mir. Wenn er mit mir fickt, wird er nicht noch depressiver, das steht ja fest. Schön ist er nicht, jedoch ganz jung noch scheint er, manchmal ist selbst dieses schwer auszumachen, wenn einer dermaßen dick ist. (Keine zwanzig aber bestimmt.) Er hat dieses Weiche, Gefühlvolle, übel ist es nicht. Die Erfahrung zeigt ein ums andre Mal, dass die, wo alle die Finger weglassen, am Ende die Besseren werden, extrem besser, als man vorher sich selber gedacht hatte.

Als er sich umsieht, deute ich auf den Hocker an seiner Seite und setze eine fragende Miene auf. Er steht auf seiner Leitung. Ich nehme das Pils, gehe hinüber und sage: „Darf ich mich zu dir setzen?“
„Ja.“
Und dieses eine Wort klingt, als sei ich aufgeschlagen neben meiner Spur.

„Du kommst sonst nicht?“, sage ich.
Ralfi kann brauchen, was es gelernt hat.
„Doch“, sagt sie.
„Jetzt bin ich länger nicht hier gewesen.“
Auch dieses Wesen hat sein Geschlecht, sie hat ein weibliches Geschlecht.

„Ach. Ach so. Ja. Na ja, ich bin selber so selten da. Da kann sein, dass wir uns verfehlt haben. Wohnst in der Stadt?“
Sie heißt Katharina, wohnt in der Pestalozzistraße, ist Friseurin.
„Dir scheint’s nicht gut zu gehen, hab ich den Eindruck.“
Nein, gut geht es Katharina nicht. Wie soll es gut gehen, wenn Marianne sie rausgeschmissen hat?
„Das tut mir Leid. Wer weiß, vielleicht überlegt sie sich’s.“

„Scheiße! Die hat längst ‘ne Andre. Die dumme Kuh bin bloß wieder ich, die’s nicht kapiert und hinterher rennt!“
„Das ist schlimm, wenn man wen liebt und der liebt jemand andren. Du hoffst also weiterhin noch?“
„Quatsch! Ich hoff gar nicht! Genug lang war ich die Dumme! Ich hab’s kapiert. Ist over.“

„Irgendwie geht das Leben ja auch weiter. Jedes Mal, wenn ein Scheiß passiert. Das ist am Leben das Schöne. Später lacht man dann.“
„Ich trinke auf Später.“

Sie gießt was hinter die Binde. Sie schaut, sie sagt nichts.

Ich lasse noch ein Pils machen und grübele. Erstaunt stelle ich fest, dass es mich nicht erschüttert hat, dass aus diesem Sack eine fette Lesbe geworden ist. Ich beginne zu schmunzeln über den Abend und über mich selbst. Ich will Katharina abschleppen. Ich will sie ins Bett nehmen. Irgendwann wollte ich es immer kennen lernen. Diesbezügliche Frauen hatte ich mir zwar dünn und knabenhaft ausgemalt.
Katharina ist immerhin nett. Ich mag sie.
Reicht Nett-Sein, damit ich einen hoch bekomm?
Wenn sie nackt ist, wird nicht zu verkennen sein, dass Katharina kein Junge ist.

„Also, wenn ich das sagen darf ... Es bringt dich nicht groß weiter, wenn du ins Schwulenlokal gehst, nicht? Auch das Saufen nicht.“
„Immer noch besser als zu Hause. Jetzt sitze ich eben hier. Wenn es will, kann es mich also hier treffen, das neue Glück.“
„Vielleicht zu wenig Frauen hier drin.“

Ich erzähle Katharina, was ich mache. Dass ich nämlich kein Geld habe. Ob sie einen Salon kennt, wo man Waschen, Schneiden, Föhnen für unter dreißig Mark kriegt. Katharina sagt, ich soll zu ihr. Sie machen das billiger.

„Was bist du?“, fragt sie.
„Wie, was bin ich?“
„Schwul, hetero, bisexuell, pervers. Was bist du?“
„Na, schwul! Merkt man’s nicht?“
Aber zugleich versuche ich, meinen Blick so hinzubiegen, dass man kapiert, ich kann ja auch anders, falls sie Lust hätte, auf ihren Frust hin. Verführer müssen immer wieder Sachen sagen, die dem, was ihre Wörter vorgeben zu sagen, gewaltig widersprechen.

„Du bist ja nett, Ralf. Bist du auch ganz allein? Hast auch niemand?“
Ich schaue mich um.
„So sieht es aus.“

„Aber mit Frauen hast du’s gemacht?“
Vorsichtshalber wäre die Wahrheit angeraten. Ein Fiasko kann kommen im Bett. An ihr hat es dann nicht gelegen, sondern dran, dass es für Ralf mit Frauen halt nicht werden sollte.
„Nee, eigentlich nicht. Nein, mit Frauen hab ich noch nie was gemacht. Das müsste ich jetzt wirklich mal nachholen.“

Einfach nur mal so hat Katharina nicht gefragt. Jetzt ist sie enttäuscht.
„Du bist auch schon dreißig. Noch nie mit ner Frau, wie?“
Ich zucke die Achseln.

Vom Thekenende prostet der Schnieke uns zu und er ruft etwas herüber, die Musik macht es unverständlich. Jetzt kommt er her, stellt sich, Glas in seiner Hand, neben mich und erklärt aufgedreht: „Ich komm jetzt rüber zu euch. Die Geselligkeit liebe ich nämlich.“
Sitzt neben mir auf dem Hocker.
„Ich bin der Bernd.“
Hält die Hand hin.

Exakt von dieser Art sind die Schwulen nämlich. Ist man allein und hat mit sich zu knabbern, übersehen sie einen glatt. Hat man mal Freunde und interessiert sich für keinen, drängen sie sich in den engeren Kreis und buhlen dann dort um Aufmerksamkeit und Zuneigung bis zum Gehtnichtmehr für sich.

Ob er auf Durchreise sei?
„Soo könnte man es nennen. Oder, nein, besser, auf einer Heimreise. Ich war jetzt sehr, sehr lange nicht mehr hier. Hab Jahre im Ausland gelebt. Weit, weit weg, oh jaa, gaanz weit!“
Sein Hochdeutsch ist akzentfrei, keinerlei Anklang an die Mundart der Gegend.

„Da kannst du das nicht kennen. Das gibt’s noch nicht lang. Wie findest du’s?“
Er schwenkt seinen Kopf, als würde er die Kneipe zum ersten Mal wahrnehmen.
„Ich würde meinen, das hier hat was.“
„Echt?“
„Aber ja! Ein Lokal mit Atmosphäre. Nicht zu vergessen die netten Leute, wie, äh, Ralf? Und Katharina!“

Er lacht und scheint von sich eingenommen. Beim Sprechen legt er mir die Hand auf meinen Arm. Das kratzt mich nicht. Ich weiß, dass ich zehn Mal eher mit Katharina in die Kiste falle als mit dem Heini.

Katharina erzählt von Marianne.
Bernd sagt: „Hm, hm.“

Ich frage, in welchem Land er war.
Bernd sagt: „Ostasien. Japan.“

Japan ist das Zauberwort.

Von nun ab wird nur von Japan gesprochen. Bernd spricht und wir hören ihm zu.

„Japan. Eine andere Welt! Könnt ihr vergleichen mit nichts, was ihr kennt bis jetzt. Mittlerweile ist Japan dem Westen in jeder Beziehung Jahrzehnte voraus. Kommt natürlich nicht von ungefähr! Sondern basiert auf einer Kultur von Jahrtausenden. Das Leben Japans ist bis ins Allerkleinste durchwoben von antiker Kultur.“

Bernds Geschwätz zerrt mir an meinen Nerven. Ich werfe ein, einer hätte mal gesagt, die Japaner wären das faschistischste Volk.
„Oh, da muss ich leider sagen, dein Freund hätte sich genauer informieren können. Wahrscheinlich ist er selbst nie drüben gewesen. Die Japaner sind kein bisschen faschistisch. Der Japaner hat den gesund entwickelten Sinn für eine Ordnung in Harmonie. Faschismus ist was anderes!“
Ich sehe zu Katharina rüber. Katharina langweilt sich.

„Nehmen wir nur die Kultur der Badehäuser. Marianne, besonders dich dürfte das interessieren.“
„Katharina“, verbessere ich.
„In Badehäusern wird nicht nur gebadet, des Menschen Seele und Geist regenerieren im Badehaus. Massage, Duft-Essenzen, asthenische Öle. Den Begriff Geisha habt ihr gehört. Was stellt ihr euch nun darunter vor?“
Für irgendwelche Antworten lässt er keine Pause.
„Im Westen denkt man an Prostitution. Eklatantes Fehlverständnis japanischer Kultur, wie es nur im Buche steht! Die Geisha ist die Dienerin. Als die Dienerin dient sie dem leiblichen, mehr aber ja dem geistigen Wohlbefinden des Herrn. Ihn nennt man auf Japanisch den Meister. So viel umschließt dies alles. Geishas baden den Herrn, sie salben ihn in Essenzen, singen Gedichte, sie erschaffen furiose Mahlzeiten. Sie sind es, die dem Meister sein Haar pflegen, es kämmen.“
Ich blinzle Katharina zu.

„Gibt’s das in schwul auch?“
„Nun, dies ist ein Bereich, in den ich nicht solchen Einblick gewinnen konnte. Was ich sagen will, den gesunden Sinn fürs hierarchisch Gestaltete haben wir hier in Europa heute ja verloren. Nur Vermassung und Kommerz! Wenn aber eine Geisha in Japan drüben mit ihrem Herrn schläft, selbstverständlich tut sie dies unter vielem anderen auch, kann man das in keinster Weise in eins setzen, wenn die Nutte das im Westen für paar Scheine macht auf die Schnelle. Es geht da um eine Raffinesse, um Tausch, Kultivierung. Und ...“
Er bricht in doofes Lachen aus.
„...das muss euch jetzt sehr komisch vorkommen. Wisst ihr, wie der Herr der Geisha seinen Willen zu bedeuten pflegt? Er sieht ihr tief ins Auge, Marianne, wie ich jetzt dir, er neigt seinen Kopf ganz ehrfürchtig, er klatscht in seine Hände, zwei Mal. Genau so. Das ist alles. Da muss man ja gar nichts zerreden, wenn die Kultur so mal ist. Immer ist der Japaner ja viel diskreter als der Westen.“

Er hebt seine Griffel wie zum Gebet, patscht sie zwei Mal. Scharf starrt er mir in meine Augen, lange in die von Katharina.
„Was sagt ihr jetzt?“
Anscheinend hat der Arsch es auf einen Dreier mit uns beiden abgesehen.

Bernd fragt, wie wir zueinander stehen. Wir haben uns heute erst kennen gelernt, sagt Katharina. Wir passen zusammen. So einsam sind wir beide. Marianne hat Katharina im Stich gelassen und Ralf hat keinen Freund. Und auch noch nie mit Frauen geschlafen.

„Ja?“, macht Bernd. „Eine Erfahrung, die ich nicht missen wollte. Allerdings muss ich unterstreichen, dass an die Liebestechnik einer Geisha in Europa nichts heranreicht.“

Er schwingt sich von seinem Hocker und stellt sich zwischen uns. Für jeden hat er einen Arm frei.
„Ach, ihr süßen Einsamen, ich liebe euch beide! Jetzt seid ihr nicht mehr einsam. Jetzt sind wir unserer dreie. Auch ich befinde mich ja in der Phase des Schmerzes, aber ich halte ihn gut verborgen. In Japan lehrt man, Höflichkeit gebietet uns, die eigenen Gefühle nur sehr in Maßen zum Ausdruck zu bekunden.“

Er setzt sich auf den Hocker an der Seite von Katharina, als stünde dort sein Name.
Der graue Hans streckt den Bleistiftbart dazwischen und fragt, ob er noch was bringen darf. Bernd winkt ab, nachdem er auf seine Armbanduhr gesehen hat.

„Ja, ihr Lieben, selbst dieser zauberhafte Abend neigt sich dem Ende schon zu. Alles kehrt ja dann auch wieder. So muss ich denne.“
Er legt eine Hand auf Katharinas Arm. „Katharina! Liebe, gute Katharina! Sei doch bitte, bitte nicht mehr melancholisch! Siehst du nicht, dass Menschen hier sind, für die du unheimlich wichtig bist? Hier ist Ralf. Und hier bin ich.“

Er fasst sie an ihren sackigen Schultern und er schüttelt sie.
Katharinas Kopf taumelt und ruckt, es seufzt von tief herauf.
„Aaaaach jaaaa verdammt ...“

„Katharina! Schluss damit! Wenn ich bei dir bin, darfst du nicht so sein! Ich gestatte dir das gar nicht, hast du mich verstanden? Jetzt wird sofort gelacht! Du lachst jetzt auf der Stelle für mich!“

Bernd rüttelt sie, Sack und Hocker fangen zu schlingern an. Und dann bricht aus Katharina Lachen hervor.
„Hast du gesehen, Ralf? Hast du es gesehen? Unsere liebe Katharina lacht nun wieder.“

Kick dem Arsch in seine Eier, hart und gleich, sage ich mir.
Hingegen Katharina scheint Bernd doch nett zu finden.

„Na! Wir wollen schaun, was dieser Abend an Geschenken für uns bereit hält!“
Bernd steht und überragt sie auf dem Hocker.
„Katharina!“, blafft er.
„Katharina! Kuck mich sofort an! Ich rede hier mit dir! Katharina! Kuck in meine Augen! Tu, was ich sage!“

Katharina hebt ihren Kopf. Weihevoll neigt Bernd seinen Kopf ihr zu. Und nun sieht er ihr fremdländisch in ihre Augen, er patscht seine Händchen zusammen. Zwei Mal.
Katharina erhebt sich.
„Brav“, sagt Bernd, „Katharina, du verstehst mich.“

Bernd legt den Arm um Katharina und ruft nach Hans.
Er zahlt nicht mal ihre Getränke, aber ohne einen Blick auf mich zu werfen, geht sie mit ihm.

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