Bei der Urnenbestattung von meinem Vater, letzten Freitag, waren eine Menge Leute zugegen. Obwohl meine Eltern zu der Sorte Leute gehörten, die kaum engere Freunde hatten und so gut wie nie ausgingen. Aber in einer Kleinstadt gibt’s viele Leute, die kommen müssen, wenn so eine Todesanzeige in der Zeitung steht. Unangenehme Sache, als trauernder Hinterbliebener im Rampenlicht zu stehen vor Leuten, die man nicht kennt oder doch seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte (meist eher zum Glück). Irgendwo scheinen diese Alten tatsächlich immer noch zu leben. Nun waren sie auf einmal wieder da. Oder vielleicht: einmal noch. Unter 60 war fast niemand.
Zweiundzwanzig Angehörige hinterher beim Essen, Verwandte und Zugewandte. Dabei waren die zwei Nachbarn-Ehepaare aus dem Haus, die einzigen, zu denen meine Eltern wirklich engeren Kontakt hatte, nicht dabei, die beiden Paare zusammen auf einer Musicalreise. Unter den Verwandten meine Kölner Schwägerin Katinka, seit Jahren von Edgar getrennt lebend. Mit ihrem neuen Mann war sie angereist, der wartete in Schafheim im Hotel. (Zuvor war man am Plattensee gewesen.)
Es hatte oft geschienen, als hätten wir eigentlich keine Verwandten. Meine Mutter war Einzelkind gewesen. Die vier Großeltern sind schon lange tot. Von meinem Vater ist eine 80-jährige Schwester noch in Offenburg. Nach Jahrzehnten des Rauchens kann sie kaum noch atmen und laufen. Die war einstens verheiratet, aber der Mann ist lange verstorben und sie waren doch auch geschieden. Als die Kinder mit ihrem Vater gegen sie konspiriert haben, hat sie die verstoßen, angeblich weiß sie nicht mal, wo sie sich aufhalten. Meine Geschwister sind kinderlos wie ich.
Manche von den Leuten hatten mich seit mehr als dreißig Jahren nicht gesehen, zuletzt in der Pubertät. Jetzt: „Der Rolf sieht noch genau gleich aus, der Edgar isch stark worre.“ Mein Bruder war in der Kindheit ein Strich in der Landschaft, heute haben wir die gleiche Hosengröße. Ich trug ein Jackett vom Vater, da ich zwar eine dunkle Hose, aber dazu kein passendes Jackett besitze.
Die uneheliche Tochter vom Bruder des Vaters meiner Mutter - samt Mann - aus Eberbach. Die Tochter der Tochter vom Bruder der Mutter meines Vaters - aus Blasiwald, Nähe vom Schluchsee, im Schwarzwald. Und immer so weiter. Bevor wir um 1970 herum erstmals im Bayerischen Wald urlaubten, dann bis Ende der Siebziger jedes Jahr in Österreich, führten unsere Urlaubsreisen entweder nach Eberbach, Odenwald, oder nach Blasiwald, Schwarzwald.
Dazu die beste Schulfreundin meiner Mutter, welche ich nicht leiden kann. Ein fettes, lautes Weib, dumm, eigentlich zwar ein netter Mensch. Sie hatten das ganze Leben am gleichen Ort gewohnt und nie was miteinander gemacht, aber als deren Ehemann tot war, anlässlich eines Klassentreffens, haben sie plötzlich rausgefunden, wie sehr sie sich noch immer mögen.
Anscheinend ist meine Mutter über alles gut weg. Im Moment scheint vor allem gut, dass sie - nach drei Monaten - wieder die Nächte durchschlafen kann. Am 22. Mai hatte sie ihren 70. Geburtstag. Zum letzten Mal an diesem Tag ist mein Vater Auto gefahren und hat mit ihr im Schwarzwald gegessen. Anfang Juni ist er in der Wohnung zwei Mal umgefallen. Seinen 77. Geburtstag hat er im Krankenhaus erlebt, wo sie weiter nichts für ihn tun konnten. Glioblastom.
Kurz nach dem Geburtstag wurde er entlassen, hat die Wohnung dann lebend nicht mehr verlassen. Zwischen Mitte Juni und Ende September hat er Bewegungsfähigkeit und Koordinationsvermögen eingebüßt. Zuletzt lag er in einem Spezialbett. Die meiste Zeit schlief er. Fußball im Fernsehen interessierte ihn da nicht mehr. Jede Nacht machte er in seine Windeln. Er konnte noch essen und sprechen. Schmerzen hatte er keine. Das ist der Vorteil vom Hirnkrebs: Man spürt ihn nicht. Ihm war nicht klar, was das für ein Zimmer war, in dem er lag. Auch die Wohnung kannte er nicht mehr, nachdem er dort drin dreißig Jahre gelebt hatte.
Wir haben schon vieles weggeworfen, mit dem Auto von meinem Bruder zum Recyclinghof. Mein Vater ist ein großer Heimwerker und Bastler gewesen. Obwohl er seit mindestens zehn Jahren auf diesem Gebiet nichts Nennenswertes mehr vollbracht hat, war der Keller angefüllt mit einem wohlsortierten Brettchenvorrat, aus dem man was hätte machen können. Sein Auto und die Garage hat die Mutter abgegeben. Ich kann so wenig Auto fahren wie sie. Mein Bruder hat ein größeres und neueres und von der Schwägerin lebt er getrennt. Die Mutter schmeißt immer weiter Zeug weg. Doch es wird etwas bleiben. Zumindest die riesigen Schränke, die sie sich vor einigen Jahren noch gekauft hatten. Bis auch sie stirbt.
Das größere Drama kommt noch. Zur Zeit ist sie einigermaßen fit und hat keine Depression. So sehr viel fehlt gar nicht. Seit Jahren ist mein Vater nur mit sich beschäftigt gewesen. Fernsehen, Computerschach, Stunden, Tage, Wochen, Monate. Die Frau hat schweres Rheuma und zwei künstliche Kniegelenke. Ihr Leben lang hat sie sich gekümmert, drei Kinder, ihr Mann, ihre Mutter und deren allmähliches Auslaufen. Jetzt sitzt sie in dieser Vierzimmerwohnung, hat, bis auf die wiedergefundene Schulfreundin und die zwei Ehepaare, keinen mehr, der sich für sie interessiert in dieser Stadt. Aber sie selbst kümmert sich auch nicht mehr um was. Für meine Mutter fallen mir sowieso keine Hobbys ein, Engagement, Beschäftigungen oder Interessen, die sie außer dem Erwähnten jemals gepflegt hätte.
Dass ihre Schulfreundin, die Witwe, irgendwelchem Hokuspokus hinterher lief, Pendeln, Fotografieren der menschlichen Aura, fand sie so lächerlich wie die spät ausgebrochenen Golf-Wonnen ihrer Cousine, einer Augenärztin (die sowieso recht weit weg wohnt). Es kann noch heiter werden.
Gruß
Rolf