Ich bitte euch meine Zeitsprünge zu entschuldigen. Die Geschichten gehen eher nach den Auswirkungen auf mein Wesen, als nach der Zeit.
Ich war ca 4 und mein Bruder 2 Jahre alt. Es war ein Tag wie jeder andere. Mein Bruder und ich wachten auf und spielten. Mama schlief noch. Sie wollte nicht von uns geweckt werden, deshalb spannte sie eine Wäscheleine zwischen der Badezimmertür und unserem Zimmer, damit wir dort nicht raus kommen. Wir versuchten oft die Knoten zu lösen, ich würde sogar sagen das war sowas wie unser morgendliches Ritual. Wenn Mama endlich aufwachte ließ sie uns aus dem Zimmer um zu frühstücken. Mein Bruder und ich mussten uns das Frühstück selbst machen, weil Mama erstmal ihre Ruhe nach dem aufstehen brauchte. Wir lernten schon früh uns selbst zu versorgen. Ich bin sogar alleine in den Kindergarten gelaufen. Es gehörte für uns zur Normalität auf uns gestellt zu sein. Heute bin ich sogar ein bisschen dankbar dafür, dass Mama uns nicht so viel Aufmerksamkeit schenkte.
Mama ignorierte uns oft und war froh, wenn wir endlich raus gingen um mit den Nachbarskindern zu spielen. Warum das so war, werde ich euch erklären.
Mama hatte jeden Tag Besuch von ihren Freunden. Sie blieben oft bis in die Nacht und die lachten laut und viel. Ich erinnere mich an einen Tag, da sind sie komplett durchgedreht. Sie schmissen sich auf den Boden und schrien: „Die Gummibärchen greifen an, alle in die Gräben!“ Sie hielten ihre Hände, als würden sie Maschinengewehre halten und machten passende Geräusche dazu.
Wir fanden das natürlich total amüsant. Kinder lieben es, wenn Erwachsene Spass machen. Je älter ich wurde umso mehr kam ich dahinter, was es mit diesen „Spielereien“ auf sich hatte. Mama nahm Drogen und ihre Freunde waren der Dealer und die anderen Süchtigen. Ich verstand immer mehr mit zunehmenden Alter, warum die Männer um Tabletten würfelten und warum immer so viel Geld auf dem Tisch lag. Es wurde mir bewusst, dass Mama uns gar nicht mit Absicht ignorierte, sondern, dass sie krank war.
Ich weiss nicht genau wie lange Mama das Zeug genommen hat, aber ich weiss als wir ungezogen sind hörte diese Gleichgültigkeit auf. Vielleicht war es nur der Einfluss ihrer Freunde.
Die Jahre vergingen und Mama kümmerte sich ein bisschen besser um uns. Ich durfte sogar meinen Geburtstag feiern und Freunde einladen. Es machte mich damals so glücklich. Es existiert sogar ein Foto von diesem Geburtstag, auf dem meine Augen leuchten wie funkelnde Sterne.
Ich hatte leider nicht oft den Grund mich so dermaßen zu freuen, deswegen blieben solche Tage fest in meinen Erinnerungen verankert.
Meine Tante hat viel zu meiner Erziehung beigetragen. Sie war da, sie kümmerte sich um mich und erfüllte mir fast jeden Wunsch, als wäre ich ihre eigene Tochter. Die Kehrseite dieser Medaille ließ nicht lang auf sich warten. Mama benutzte mich als Druckmittel, wenn meine Tante Streit mit ihr hätte. Mama wusste ich war der wunde Punkt und so fügte sich meine Tante oft.
Auch das habe ich irgendwann verstanden und meine Tante hörte auf sich zu fügen. Ich traf mich heimlich mit ihr und sagte Mama, ich würde mich mit einer Freundin treffen. Meine Tante und ich haben eine sehr enge Bindung bis heute. Sie redete nie schlecht über meine Mama, egal wie sehr sie ihr weh getan hat. Dafür bewundere ich sie noch heute. Meine Tante ist in meinen Augen mehr Mutter für mich gewesen, als es sonst jemand hätte sein können. Mama behandelte mich oft wie einen Gegenstand und doch bin ich nicht böse auf sie. Ich liebe sie trotzdem, sie ist schliesslich meine Mama und weiss heute, dass sie viel falsch gemacht hat. Ich habe ihr verziehen und bin dankbar, dass sie mich so selbstständig gemacht hat.
Auszug aus dem Leben eines Mädchens (2)
von Claire Brady
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Claire Brady
- Prosa von Claire Brady
- Prosakategorie und Thema: Experimentelles / Sonderfälle, Kurzgeschichten & Kurzprosa