Text 202: Beim Arbeitsamt

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Hallo.
Nein, es ist nicht meine Absicht, meine ganzen Tage mit solcher Schreiberei zu vergeuden. Ich komme nur nicht los davon. Wenn es bei meinen ernst gemeinten Anstrengungen doch auch mal so wäre!

> Wenn ich das lese, überlege ich, ob ich nicht kündigen sollte.
Kündigen kann jeder. Man hat immer eine Wahl.
Die Frage ist, was dann danach kommt. Angesichts der Tatsache, dass ich „Relations Advance“ einen Horror gefunden hatte, aber den richtigen Horror als Briefträger erst erlebte, dort also dachte, schlimmer kann’s nicht mehr kommen, also kann ich auch kündigen, es bei Frau Rot sich dann ordentlich anließ, zu Horror sich aber entwickelte, der sowohl Relations Advance wie die Post hinter sich zu lassen schien, frage ich mich heute, was an Infamien das Leben noch bereithält. So wird Thomas Bernhard einem sympathisch, der sagte, dass die Menschen Ungeheuer sind, alle Tätigkeiten verrückt, alles sowieso auf den Untergang zuläuft.

Wenn ich deinen Satz lese, überlege ich, ob man meine Begründung so versteht: „Ach, so geht’s mir doch auch. Das ist ja überall so. Da könnte jeder kommen, Arbeit sei ja Zumutung.“

> Gab’s Reaktionen vom Arbeitsamt?
Im Gegensatz zu mir bist du mit dem Verfahren wohl nicht vertraut. Dass diese Begründung verlangt werden würde, wusste ich nach den Erfahrungen anlässlich vom Abgang von „Relations Advance“. Deshalb habe ich in die Rot’sche Kündigung neben „physisch zu viel“ auch noch „psychisch zu viel“ eingeschrieben, damit ich, je Gusto, über die Person der Chefin auch herziehen kann, wenn ich was erläutern soll. Es ist allerdings außer von dir und mir von noch niemandem bis jetzt gelesen worden.

1. Man geht zum Arbeitsamt am Tag nach dem letzten Arbeitstag. Denn sollte man je Geld bekommen, wird es ab dem Tag gerechnet, an dem man erstmals persönlich erschienen war. Bei mir also 1. Oktober.

Am 30. September hat die Rot mich morgens eine halbe Stunde früher antanzen lassen, weil noch was auszupacken war.

Tage hatte sie verkündet gehabt, von meinem Urlaubsüberschuss die letzte halbe Stunde werde sie mir schenken. Also nun, dieser Zuviel-Urlaub war mit jener halben Stunde vom Vormittag bis auf eine letzte halbe Stunde abgebaut, zog ich um 18.00 Uhr die Jacke an. Die Schlüssel hatte ich nach der Mittagspause überreicht, sie mir ihr Zeugnis. Rot war erstaunt. Sie hatte anders gerechnet. Also musste ich an diesem allerletzten Tag, an dem ich eine halbe Stunde früher hatte kommen müssen, auch noch eine halbe Stunde am Abend länger bleiben. Als sie dann punkt 18.30 Uhr mir mit routiniertesten Kundenlächeln ihre Hand reichte, muss ich sie wie eine Idiotin angeguckt haben. Also sagte sie es dann doch nicht, dass ich zu ihren Mitarbeiterzusammenkünften weiter kommen könnte. Früher hatte sie es mal gesagt.

2. Da Monatswechsel und Quartalsende hierbei zusammenfielen, drängten Heerscharen von Neu-Arbeitslosen ins Amt. Man bekommt einen Zettel, dass man dort war, wird auf den nächsten Tag bestellt.

3. Zuerst ist man an der Willkommenstheke, wo man freundlich empfangen wird wie im Hotel. Hat nichts zu sagen, da steht nur der Gruß-August. Wie immer in meinem Leben sind meine Bearbeiter zu 90 Prozent weiblichen Geschlechts, auch hier nun wieder. Die Augustine, die grüßt.

4. Man wird auf ein Zimmer verwiesen, vor dem man nun erst mal warten muss. Es beginnt das beglückende In-den-Gängen-Sitzen, dieses Gefühl, andere, die später angekommen sind, kämen vor einem dran.

5. Im Zimmer sitzt die nächste freundliche Augustine. Auch diese bearbeitet einen aber nicht, man ist ihr wurscht. Ihr Auftrag besteht allein darin, einem einen Termin bei der Arbeitsberaterin mitzuteilen. Ist bei mir dann in zehn Tagen erst. Sodann frägt sie, wer gekündigt hat. Wenn man sagt, ich, runzelt sie ihre Stirn, ist ihr dann aber wurscht, da für sie kein Geschäft. Sie überreicht das Formblatt mit vier Fragen zur Begründung. Der Raum für Antworten ist knapp gehalten. Zugleich steht dort, dass man ausführlich antworten soll. Sie will den Personalausweis sehen und überreicht zwei mehrseitige Formulare zum Ausfüllen und Mitbringen. Das eine ist der Antrag auf Arbeitslosenhilfe. Das andere eine Arbeitszeit- und Verdienstbescheinigung, welche Ex-Boss bis zum genannten Termin an dich zurückzusenden hat. Dein Boss füllt aus, bevor irgendjemand die Kündigungsbegründung zu Gesicht bekommen hat. Das ist ja nicht übel.

Die zweite Augustine sagt mit keinem Wort (war vor einem Jahr genauso), dass du mit tödlicher Sicherheit eine dreimonatige Geldsperre aufgebrummt kriegst, weil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Kündigungsbegründung als nicht hinreichend eingestuft werden wird. Dass du erst ab dem zweiten kommenden Monat übers Arbeitsamt wieder krankenversichert sein wirst. Das würde das momentane freundliche Klima beenden, deshalb erwähnen sie es nur, wenn man sie danach fragt. „Das wäre dann alles. Oder möchten Sie was fragen?“

Voriges Jahr hatte meine Mutter mich beschworen, nur keine Sozialhilfe, sie würde das übernehmen. Meinen Briefträgerjob hatte ich schon so gut wie sicher, also beantragte ich zur Überbrückung keine Sozialhilfe. Dieses Mal habe ich gemotzt, es sei unverantwortlich, dass sie nicht sagen, dass man jetzt vier Wochen ohne Krankenversicherung rumläuft, wenn man nicht gleich zum Sozialamt geht. Da nun erfuhr ich, dass du, selbst wenn du die Sperre bekommst, krankenversichert bist, weil dein Betrieb dich einen Monat noch nachversichern muss. Och, das wird die herzensgütige Frau Rot sicher freuen, dass sie mir hier helfen kann.

6. Nach zwei bis drei Wochen kommt besagter Arbeitsberater-Termin. Du gibst alle deine Papiere, also die Begründung auch dann erst, ab. Deine Arbeitsberaterin sagt nichts. Vielmehr heißt es, es müsse geprüft werden. Angeblich prüft es jemand anders, sie sagen nicht, wer. „Sie bekommen Bescheid.“

Der Bescheid ist schriftlich, kommt flott, ist unleserlich unterschrieben und sagt dir, dass du vom ersten Oktober bis Weihnachten (Arbeitsamt-Monate sind irgendwie kürzer) kein Geld bekommst. Diese Sperrzeit wird auf das Jahr angerechnet, in welchem du berechtigt bist, das normale Arbeitslosengeld zu empfangen.

Bei Arbeitslosenhilfe gibt es, obwohl alle es anders erzählen, noch keine Bezugsdauerbegrenzung. Wird eingeführt, solange die Wahlen noch einigermaßen fern sind.

„Wenn Sie deshalb Probleme mit dem Lebensunterhalt bekommen, können Sie Sozialhilfe beantragen.“ Das sagen sie dir dann nach einem Monat. Natürlich gibt es auch die Sozialhilfe vom ersten Tag der Antragstellung an, nicht also rückwirkend. Und sofort ausgezahlt wird die auch nicht.

Nun gibt die Arbeitsberaterin dir einen neuen Termin bei ihr selbst, wo sie mit dir besprechen will, wie das alles weitergeht. Während du momentan nämlich noch Laufkundschaft bist, wird sie in ihrem Zeitplan dann eine ganze halbe Stunde Zeit für dich eingestellt haben. Bis dorthin noch mal zwei oder drei Wochen. Dann fragt sie dich, was du bis jetzt schon unternommen hast, um Arbeit zu finden. (Dass sie das dann immer fragen wird, eröffnet sie dir momentan aber noch nicht. Man muss sachte an die Materie herangeführt werden.)

7. Es folgt der Bescheid über die Sperrzeit vom Arbeitsamt deines Wohnortes. Sowie, praktisch zeitgleich, aber von der Bundesanstalt in Nürnberg aus, die Berechnung des (einstweilen aber noch ausgesetzten) Arbeitslosengeldes.

8. Beim dann folgenden Gespräch habe ich die zuständige Arbeitsberaterin Frau Kleff kennen gelernt. Ich war nämlich immer als Akademiker bei Frau Weiser gewesen, wurde nun aber vom Akademiker zum normalsterblichen Arbeitslosen, Innenstadtbezirk, umgruppiert, also zu Frau Kleff. Sie hat mich viel reden lassen, die ganze Zeit im Computer herumgesucht und abschließend befunden, da wäre intensive Einzelfall-Beratung wichtig, zu welcher keine Zeit sei bei ihr im Plan.

Also schob sie mich an die AQF weiter, dort zu Frau Jungmann, „da kann man sich intensiver kümmern“. Was ausdrücken soll, dass Frau Jungmann für ihre Gespräche eine volle Stunde Zeit hat. Ich rief da an. Frau Jungmann hat einen Terminplan und für das Gespräch mit mir Zeit frei in drei Monaten. Unrecht war mir das nicht, denn, dass neuer Verdruss dann folgen würde, war mir schon bewusst.

Von November bis April bekam ich von Frau Kleff keinen einzigen Vermittlungsvorschlag zugesandt. Diese Vorschläge bedeuten, bewirb dich, sonst kriegst du sechs Wochen Sperre verpasst. Von Weiser damals kamen im Quartal per Post immer so vier Vorschläge, meist Sozialarbeiterisches auf 1-Jahr-ABM-Basis. Bin nie genommen worden. Teilweise auch nach Vorstellungsterminen. Die erwähnte Frau Jungmann von AQF war im Frühjahr, bevor ich bei Rot unterschlüpfte, ja der Ansicht, ich sollte mal eine ungelernte Tätigkeit anfangen, Lagerhilfskraft wäre doch was. Mal sehen, ob es ein Wiedersehen mit dieser Jungmann geben wird.

9. Nach Ablauf der Sperre setzt automatische Geldzahlung ein.

Die ausführliche Kündigungsbegründung ist ein Joke, eine wertlose Formalie, die routiniert abschlägig beschieden wird, falls du vom Chef nicht sexuell belästigt wurdest.

Dir dürfte bekannt sein, dass Arbeitslosengeld wie auch Arbeitslosenhilfe auf Basis vom letzten Netto errechnet werden, bei Singles geringer als bei Verheirateten, 60 Prozent vom Netto bei den Verheirateten, 53 Prozent für die Singles. Sozialhilfe lag damals noch bei 610 DM monatlich, dazu kommt noch der Zuschuss für die Miete, bis zu 500 Mark.

Weitere Leistungen können bewilligt werden auf Antrag: Heizungsbeihilfe im Winter (bei den Mietzuschüssen sind Heizkosten nicht berücksichtigt), Kleidergeld im Winterhalbjahr, Kleidergeld fürs Sommerhalbjahr. Darüber hinaus werden - im Bedarfsfall - lebensnotwendige Anschaffungen unterstützt, Bett, Kühlschrank, Herd, Fernseher (lebensnotwendig). Wer dieses schon hat, kriegt halt nichts. Mit Kindern lässt sich einiges rausholen. Uns ewigen Junggesellen hilft es wenig. Mit einem weiteren Antrag wird man von der Zahlung von Rundfunkgebühren befreit, für ein Jahr, dann wieder der Folgeantrag. Früher gab’s auch noch reduzierte Grundgebühren bei der Telekom. Musste man dann wieder extra bei denen beantragen. Jetzt sind sie schlau geworden. Die Grundgebühr müssen alle gleich bezahlen. Und dann erst vom Preis der Einzelverbindungsgebühren kriegen die Bedürftigen auf Antrag 20 Mark (oder so was) abgezogen. Hilft mir aber nichts, da ich außerorts über Telekom nie mehr telefoniere.

Fall du nunmehr auch kündigen willst, gestatte ich dir, die Kündigungsbegründung, für deine Zwecke leicht abgeändert, beim Arbeitsamt vorzulegen. Ich kann dir das als DOC-Anhang mailen, damit du es nicht noch mal abtippen musst.

Interne Verweise

Kommentare

10. Jul 2018

Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen könnte man sich dieses (nerven-)aufreibende Prozedere und eine Menge Verwaltungskosten sparen. Darüber hinaus würde diese Regelung dazu beitragen, dass Menschen nicht mehr aufgrund Arbeitslosigkeit als "dumm" hingestellt und/oder gar verachtet würden. Es wäre ein Gewinn für die gesamte Menschheit und gerechter. Kaum jemand ist arbeitslos, weil er faul ist. Es gibt darüber hinaus Menschen, mit denen man nicht zusammenarbeiten kann, Mobber und Stänker. Es sollte mehr Flexibilität im Arbeitsleben stattfinden, Kündigungen nicht auch noch bestraft werden; man sollte freier und finanziell gesicherter ausloten dürfen, auf welchem Arbeitsplatz man seine Fähigkeiten am besten einbringen kann, in einem guten Team, wo man einfach glücklich(er) ist. Allerdings habe ich andererseits oft - leider - feststellen müssen, dass manche Menschen kaum noch etwas (mehr) zu bringen bereit sind, sondern sich viel lieber auf der Arbeit für den Feierabend ausruhen. Danke für den sehr guten Beitrag.

LG Annelie

13. Jul 2018

Tja, es dürfte bis an diese Stelle im Gesamtwerk immerhin klar geworden sein, dass es sich um keine Geschehnisse aus der Gegenwart handelt. Sondern um einen Zeitpunkt, der vor der Abwahl Schröders liegt. Welchem bekanntlich ein glorreicher Wiederaufstieg der Partei SPD gefolgt ist, weil sie sich so unermüdlich für das soziale Ganze im Lande zerschlissen hat.

Was das Grundeinkommen angeht, kann man daran denken, dass das erste Land, in dem eine an die Regierung gewählte Partei es tatsächlich zu verwirklichen verspricht, Italien ist. Und die 5-Sterne-Bewegung. Also der Populismus. Oder dass sich bei uns im Land besonders ein Unternehmer dafür stark macht, der gleichzeitig sämtliche Unternehmersteuern abschaffen will. Das könnte einen auf die Idee bringen, wieso eigentlich ein nennenswerter Anteil an Volk und Gesellschaft dauerhaft mit einem Brot-und-Spiele-Geld ruhig gestellt werden sollte, während die "Leistungs- und Verantwortungseliten" jede weitere Sekunde reicher und reicher werden. Grundeinkommen, also nett, aber vielleicht fällt uns noch was Geschickteres ein.

13. Jul 2018

Danke, Klaus, für Deine Antwort. Dass es sich bei Deinem erzählenden Bericht nicht um neuere Tatsachen handelt und dieser eventuell noch von der Zeit vor der Schröder-Ära handeln könnte, war mir bewusst - obwohl ich nicht glaube, dass sich allzu viel an der Situation der Menschen, die auf Leistungen des Staates angewiesen sind, positiv geändert haben könnte - im Gegenteil. Was in Italien für Pläne in dieser Hinsicht geschmiedet werden, kann ich nicht beurteilen, werde mich aber informieren. Es interessiert mich sehr, obwohl ich bereits meine Rente bekomme. Es ist mir, ehrlich gesagt, egal, was für Leute sich hier für ein Grundeinkommen starkmachen. Dieser Unternehmer wird damit niemals durchkommen und kann eh nicht ganz bei Trost sein. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte möglicherweise eher verwirklicht werden und zu Gerechtigkeit führen, wenn wirklich Reiche höher besteuert würden und eine Annäherung erfolgte, was Reichtum und Armut betrifft. Gesellschaftliche Isolation und Klassenunterschiede, worunter ja immer noch viele Menschen (leider) leiden, würde weitgehendst aufgehoben. Mit gutem Willen und einer guten Finanzpolitik wäre das zu schaffen.

LG Annelie

27. Jul 2018

Da gibt es einen Franzosen Thomas Piketty. Der hat ein dickes Buch geschrieben, das weltweit einigermaßen Aufmerksamkeit erregt hat. Wir sollten uns aneignen, solche Dinge in einer kontinentalen und dann auch einer globalen Perspektive zu betrachten. Piketty sagt, die ungleiche Verteilung des von der gesamten Menschheit erwirtschafteten Wohlstands ist heute wieder so hoch wie vor dem Ersten Weltkrieg. Und sie wird mit jedem Jahr ungleicher, nicht etwa gleicher. Piketty sagt, es sind niemals in der Geschichte der Menschheit so viele "von unten" zu Wohlstand gelangt wie in den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. (Global betrachtet.). Und das ist eben vorbei und hat sich wieder umgedreht. Und man kann ziemlich genau sagen, wann: Etwa 1980. Zwei grässliche Kriege haben für mehr Gerechtigkeit gesorgt. Mit gutem Willen scheint so viel nicht zu machen zu sein.

28. Jul 2018

Danke für Deine interessanten Erläuterungen. Sie leuchten mir ein. Es ist wohl leider so: In welche Zeit man hineingeboren wird, hat großen Anteil am Schicksal. Man selbst ist ziemlich machtlos, wenn man seine Ellenbogen nicht benutzen will. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, kommt man wenigstens nicht ins Gefängnis, wenn man schreibt, was man will oder Mitglied bei Amnesty ist. Man kann ja schon froh sein, wenn man in Ruhe gelassen wird, lesen und schreiben kann.

LG Annelie