Text 136: Täglich werde ich kleiner

Bild von Klaus Mattes
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> Heinzelmännchen im Keller? Benno hat an die zwei Stunden Weg. Sie schlafen nie und essen aus Tuben.
Wie Vielarbeiter Benno das alles schafft, ist auch mir ein Mysterium. Er hat auf meine Mails so oft aus dem Geschäft um 18.40 Uhr oder so geantwortet! Dann Red Ribbon, CSD und so weiter. Bezüglich seiner Wohnung würde er runterspielen: Ach, er putze ganz ungern. (Der müsste meine sehen!) Es hat bestimmt mit Essen was zu tun. Die essen in der Mittagspause ihre Hauptmahlzeit. Gekocht wird nur, wenn mal Gäste kommen, dann aber mit Schmackes.

Bei mir ist von Kindheit an die Kaffeetafel Höhepunkt des Tages. Sie sollte etwa um fünf Uhr sein. Aber ich brauche sie als Punkt, mit dem ich Freizeit oder Freiraum markiere. Deshalb gab es zu den Ralations-Advance-Zeiten um sechs Uhr bei mir Kaffee und süße Teilchen. Inzwischen erst um sieben Uhr abends. War nicht gut, dass Ralations Advance mir angewöhnte, tagsüber vom kostenlosen Kaffee zu trinken. Bei Tee-Frau Rot gibt’s keinen Kaffee. Ich habe mir eine Packung bereitgestellt, aber ich habe nie die Zeit, mir welchen zu machen. Die süßen Teilchen müssen auch noch besorgt werden. Um elf gibt’s Abendbrot. Schlanke Linie egal.

Vor allem dürfte es über Schlafökonomie laufen. Wolfgang, junggebliebener Anfangssechziger, kommt jeden Abend zweimal im Park vorbei, weil er dahinter wohnt und an jedem Abend in eine Kneipe geht. Um halb elf geht er in die Stadt, um eins geht er heim. (Letzteres sehe ich inzwischen nicht mehr.) Um drei Viertel sieben steht er auf, steht den Tag hinterm Tresen einer Gartenwirtschaft, ohne Ruhetag. Er sagt, wenig Schlaf macht nichts, Schlaf braucht man nicht viel. Er sieht immer taufrisch aus, während Gerd, der bisexuelle McDonald’s-Restaurant-Manager, der manchmal Wein erntet und kellnert in einer Straußwirtschaft, um die Augen dunkle Ringe hat.

Habe am Wochenende nicht ausschlafen können (war verreist am Sonntag). Seit anderthalb Wochen jede Nacht sechseinhalb bis sieben Stunden Schlaf. Fühle mich nie richtig da. Klage – und die Leute verstehen nicht, wie jemand sagen kann, er habe Probleme, er kriegt nur sieben Stunden Schlaf. Heißt, man gewöhne sich dran. Ich habe mich bei Ralations Advance nie nicht gewöhnt. Freitags war ich todmüde, ging ausgerechnet in dieser „Nacht der Freiheit“ nur noch ganz selten zum Park, weil ich schlafen wollte. Das will was heißen.

> Hast du Anlass, dich überfordert zu fühlen?
Ohhh jaaa! Täglich werde ich kleiner. Es kommt mir vor, als würde ich in den letzten Jahren von Station zu Station geschickt um zu erfahren, was ich nicht kann und was ich mir auch nicht mehr aneignen kann.

Ich dachte, ich sollte mich nur mit einigen Leuten im „Paravent“, im Park oder von der Vulcano-Truppe vergleichen, dann wird mir klar, ich bin jemand, der über den Durchschnitt intelligent ist, besser zuhören kann als die meisten, dessen Gedächtnis besser funktioniert. Jetzt brauche ich nur zur Arbeit zu gehen um zu erfahren, dass ich vergesslich, ziemlich dumm und begriffsstutzig, ohne Durchhaltevermögen bin.

Wer hätte sich träumen lassen, dass Buchhandlungen so super-komplizierte Institute sind, welche einem ohne Ende Arbeit bereiten! Dazu immer das U-Boot-Gefühl! Überall fehlt uns Platz. Dazu eine Chefin, die nicht ertragen kann, dass man zwei Minuten nur steht und zuschaut, während sie telefoniert oder bibliografiert. Die einen zu einer anderen Tätigkeit schickt, von der sie, kaum hat man begonnen, einen wieder wegholt, um einen nach zehn Minuten zur dritten abzuordnen. Eine Person, die einem am Freitag sechs Karteikästen zeigt, in denen jeweils zwei Alphabete ordnen. Eine Dame, die nun am heutigen Tage erwartet, dass man jetzt von jedem Kasten genau sagen kann, welches der zwölf Alphabete sich dort zu genau welchem Behufe findet. Und zwar welches das vordere und welches das hintere Alphabet ist.

„Sie müssen sich das alles aufschreiben und abends memorieren. Es muss reichen, dass ich es Ihnen einmal gut erklärt habe und Sie sich den Rest dann erarbeiten.“

Heute habe ich zwischen 8.20 Uhr und 12.30 Uhr eine einzige Zigarette und zwischen 14.00 Uhr und 18.17 Uhr überhaupt keine geraucht. Wie schaffen Leute das, fünf Tage hintereinander, jeweils achteinhalb Stunden, ohne eine einzige Pause und immer hoch konzentriert für Kästchen und Alphabete!

Heute ist der erste Augenblick gewesen, wo ich dachte, sofort muss ich hier raus an die frische Luft, drei Minuten weg von der und um den Block rum, sonst pack ich das nicht! Aber selbstverständlich keine Rede davon. Also konnte ich eben wieder fast nichts aufnehmen. Morgen oder Freitag fragt sie es nebenbei - während der Arbeit - noch mal ab. Ich stehe wie ein Trottel da. Auf der anderen Seite gab es heute einen kleinen Moment, an dem man ihre „nahezu 99%-ige Zusage“ (sind so Rot-Zitate), dass „ich Sie als Auszubildenden übernehmen werde“, klirren hörte. Davon dürfte noch zu reden sein.

Viele Grüße von
Rolf