7566 Grau und zerrüttet

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

Jeden Abend stelle ich den Wecker und immer stehe ich auf, wenn er klingelt. Ich achte darauf, gelegentlich Salat, Früchte oder Gemüse zu essen. Ich habe ein weit über zehn Jahre musterhaft geführtes Bonusheft für die jährlichen Nachschauen vom Zahnarzt. Ich kaufe ein, ich koche, ich mache den Abwasch. Ich bügle manchmal Hemden. Ich gehe zu jeder Wahl und kreuze nur Parteien an, welche über 5 Prozent kommen oder es zumindest bald tun werden, dann für längere Zeit. Ich kaufe einen Fahrschein, bevor ich in den Zug nach Stuttgart steige, obwohl ich weiß, wie selten Kontrolleure mitfahren. Ich trenne meinen Müll. Alkohol trinke ich nahezu nie in der Öffentlichkeit. Ich werfe keine verbrauchten Batterien oder Akkus in die Abfallbehälter der Deutsche Bahn AG. Lassen Leute die Seitenscheibe herunter und fragen mich nach der Lessingstraße, gebe ich Auskunft, erwarte keinen Dank und bekomme auch keinen. Solche Augenblicke sind wichtig, denn sie belegen, dass man mich bemerkt. Manchmal habe ich das Gefühl, man bemerkt mich nicht.

Eine Glatze wie mein Vater und der Vater von meiner Mutter habe ich bis jetzt nicht entwickelt. Aber von Jahr zu Jahr bin ich dicker, konturloser, schwammiger und grauer geworden. Den Zigaretten zu widerstehen, gelingt mir jetzt endlich. Seither häufen sich meine Neigungen zu Schokolade, Eis und Wein. Ich fühle mich nicht mehr richtig gesund.

Ich sacke ab. Immer weiter in die Nacht weitet sich das Zeit-Vertrödeln, bis 3 Uhr morgens. Um elf klingelt der Wecker, den ich an die andere Seite des Zimmers gestellt habe. Mindestens zwei Stunden wanke ich wie ein Untoter durch die Räume. Mehrere Kubikmeter Verdauungsgase entweichen mir drunten und droben. Endlich lässt der innere Druck nach. Ich muss meinen Pflichten nachkommen. Muss suchen, wo ich mich noch bewerben kann. Wäsche, Kochen, Einkaufen, irgendwelche Dokumente für irgendwas kopieren. Längst ist es dunkel draußen und das allnächtliche Herumtrödeln nimmt mich auf.

Früher war da noch die Wandergruppe, aber sie war nicht hier in der Stadt. Ich musste früh raus, um zu ihr hin zu gelangen. Die Wanderer wollten früh in die Welt, um am Abend früh nach Hause kommen zu können. Hin und wieder suchte ich eigene Wanderungen heraus und leitete sie an. Aber ich wollte so viel. Meine waren die längsten Wanderungen. Nur für diese Wanderungen konnte ich so überraschend früh aufstehen, obwohl das Einschlafen am Vorabend nie klappte.

Lästig und hin und wieder schockierend schmerzhaft sind die Durchblutungsprobleme in meinen Füßen, Händen und Armen. Das kommt vom Rauchen, denke ich. Oder ich denke, es kann Diabetes sein. Das wäre eine Krankheit, die man schnell und zweifelsfrei nachweisen kann. Aber es ist nicht wirklich Diabetes. Seit meine Mutter ihrem Ende merkbar näher rückt, redet sie den lieben langen Tag auf einen ein, kümmert sich längst nicht mehr darum, ob man ihr überhaupt zuhört oder ob man es vielleicht störend empfindet, wie sie alles andere zudeckt, was man gerne machen würde. Neulich hat sie, aber sie merkte es natürlich nicht, mir einen gehörigen Schreck eingejagt. Mitten im Gerede erwähnt sie, dass man der Mutter meines Vaters mit Ende fünfzig einen Arm abgenommen hat, weil er nicht mehr durchblutet wurde. An diese Großmutter kann ich mich genauso wenig erinnern wie an den Großvater. Sie starben kurz hinter einander, als ich sehr klein war. Oha, dachte ich, das erfahre ich etwas spät. Vielleicht hatte sie es vor vielen Jahren schon mal erwähnt und ich hatte nicht darauf geachtet. Mein Vater, um dessen Mutter es ging, kann es nicht erzählt haben, denn von seiner Vergangenheit sprach er nie.

Mittlerweile schiebe ich den Arztbesuch seit mehreren Jahren vor mir her. Das ist selbstverständlich ein Verhalten, wie ich es an meinem Vater und bei den Eltern meiner Mutter schon gesehen habe. Bei mir wird es nicht so, hatte ich gedacht. Aber es ist doch so: Solange noch nie etwas gefunden wurde, ist man zur Krankheit nicht verurteilt. Sobald es einen Namen bekommt, wird es sehr schlimm sein und am Ende tödlich.

Wäre man ernstlich und amtlich bestätigt krank, wäre man mit Anfang 50 kaum noch vermittelbar. Die Blicke könnten enden. Aha, du wolltest lieber uns arbeiten lassen, bist unter die Hartz-IV-Erbschleicher gegangen. Ist man Invalide, ist man Frührentner, ist man auch Opfer. Man hat eine geschmälerte Rente und ist keiner der Täter bei der Gesellschaftszerrüttung.