Genesen in St. Mingo 1 - Gefährliche Landwirtschaft

Bild von Klaus Mattes
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Von der Station der kritischen bin ich auf die mit den normalen Herzfällen verlegt worden. Als ich mehrere Zimmernachbarn erlebt habe, stelle ich eine Theorie auf: Mit jedem neuen Bettnachbarn wird es schlimmer.

Ich bin in einem Zimmer mit drei Betten. An der Tür ein fassdicker Mittdreißiger. Von mir aus hätte ich ja „Altersloser“ gesagt, aber es dauert nicht lang und er erzählt, dass er vierunddreißig ist. Sein Atem geht gurgelnd durch den offenen Mund, sein Gesicht ist rot und aufgedunsen. Sein Haar pappt verschwitzt. Er wälzt sich, lässt einen riesigen Bauch in einem bräunlichen Unterhemd sehen (mit Ärmeln dran).

Es ist selten einfach, halbwegs zu kapieren, was er nuschelt und pfeift, vor allem jedoch in den vielen Schlafphasen, in die er unweigerlich fällt, sobald er eine Weile geschwiegen hat, in denen er dann zu reden beginnt. Manchmal werden es Schreie, dennoch versteht man nicht, was er sagt. Fetzen aus seinem bisherigen Leben scheinen durch seinen Kopf zu spuken. Vorwurfsvoll, verraten, kindlich: „... aber ihr habt’s doch g’sagt ...“

Es gibt mehrere Personen, mit denen er gesprochen hat. Auf Besuch erscheint aber immer nur eine, auch diese nur kurz und vom ersten Moment an auf Abmarsch drängend, sie müsse dann: seine Mutter. Fast jede Nacht kurz vor zehn oder gegen halb elf, was ungeheuer spät ist unter Schwerkranken, die man morgens um sechs weckt, denen man ihre letzte Mahlzeit um fünf gibt, dudelt ein Handy. Er aber schnarcht und es dudelt Minuten, bis er aufschreckt und drauf rückt. Immer ist es dann die Mutter.

Mutter und Sohn zusammen, diese beiden, sonst anscheinend niemand, bewirtschaften einen Hof, der irgendwo ziemlich verlassen zu stehen scheint, gut zwanzig Kilometer vor der Stadt draußen. Ein Vater kommt in ihren Gesprächen nicht vor. Öfters ist von dem einen oder anderen Nachbarn die Rede, der in den kommenden Tagen da und dort einspringen könnte, obwohl bei ihm in der Jahreszeit das Geschäft natürlich auch losgeht.

Anfangs bin ich so wütend über das laute Gedudel, wenn es mich aus dem Halbschlaf reißt, dass ich absichtlich keinen Versuch mache, ihn zu wecken, soll die Mutter ihn verpassen, die sitzt morgen wieder neben ihm und will gleich weg. Nach ein paar Tagen lässt an den Anrufen der immer ernstere Zustand des Übergewichtigen sich ablesen. Er verschnarcht penetrantestes Klingeln. Wenn man ihm später, wenn er aus seinen Albträumen geschreckt ist, erzählt, dass die Mutter was wollte, ist es egal. Wie verängstigt er beim ersten Mal noch gewesen war, als sie ihn nicht erreicht hatte!

An jenem Abend hatte er zwei Telefonate mit der Mutter bereits gehabt und ich hatte gefunden, die sprunghafte Dame könnte ihrem Filius eine ruhige Minute gönnen. Absichtlich hatte ich ihn schlafen lassen.
„Da kann man mich ruhig wecken, wenn so was ist.“
Und doch weckte ich ihn nie. Es war dann schon klar, meine Rufe vom Fensterbett zum Türbett hinauf hätten nichts gefruchtet, man hätte zu ihm watscheln, ihn schütteln müssen, wie er dort mit entflammtem Bauch im Schweiß lag. Ich selbst aber hing ja an mehreren Kabeln, hatte auf dem Rückweg vom Klo es einmal probiert, nur einen starren Augenschlitz und ein Knurren erhalten.

Das Gewebe des dicken Leibes war wie aufgeblasen an den Beinen. Wie entzündet. Ein Arzt sagte, die Haut will sich von dem vielen Wasser trennen, das in den Beinen gestaut ist. Offenbar war der fette Mensch nicht immer schon so überdimensioniert, flammend und gurgelnd gewesen, wie ich ihn erlebte. Nach mehreren Tagen schien noch keiner zu wissen, was ihm fehlte. Man hatte wegen diesen Flüssigkeitseinlagerungen auf Herzschwäche geschlossen, diese bisher aber mit Tests nicht richtig festmachen können. Man müsse, heißt es, nach und nach Möglichkeiten ausschließen, die Nieren, die Leber.

Auch bei ihm geht ein Tag nach dem anderen nichts vorwärts. Es ist das Abwarten, von dem niemand sagen kann, wann und auf welche Weise es enden wird. Vor paar Wochen, sagt er, war er schon in der Klinik, in einer anderen, näher zu Hause, hatte solche Symptome, nicht viel passierte, man habe ihn heim geschickt. Er müsse doch seinen Hof versorgen, wenn jetzt, viel, viel zu spät, ein paar warme Tage anfangen. Der Betrieb geht ja kaputt, wenn das hier nicht aufhört. Die Ärzte sollen was tun und ihn springen lassen. Ein Landwirtschaftshelfer ist nicht verfügbar. Die Mutter ist allein draußen und nicht mehr die Jüngste.

Man legt eine Infusion, die das Wasser aus seinen Zellen treiben soll. Er trinkt nicht eben wenig. Seine Sprudelflasche wird laufend gewechselt. Nach den Mahlzeiten klingelt er und lässt sich mehr Tee bringen. Die Ärzte fragen schon, ob er nicht zu viel trinke. Ungehalten poltert er, nur die normalen drei Liter pro Tag.

Im Gegensatz zu mir, der sich vorstellt, vielleicht wenn man draußen wäre, wäre es ein Glück, ein Stück feurig heiße Pizza aus dem Ofen oder ein halbes gegrilltes Hähnchen zu verschlingen, mir, dem die Mahlzeiten hier im Krankenzimmer immer öfter verleiden, sobald ich den Wärmedeckel vom Teller abhebe, macht der Dicke sich über alles Essbare mit Vernichtungswillen her. Rasch verschwindet es in seinem Schlund, keine Brotkruste oder Gurkenscheibe bleibt jemals über. Es dauert einige Tage, bis ich auf die Idee komme, ihm meinen kaum berührten Teller anzubieten. Er kommt rüber und wechselt seinen leeren gegen meinen vollen.

Lungenembolie könnte das sein, fürchten sie und sehen sehr besorgt aus. Man karrt ihn wo hin und er ist so weggetreten, dass er es nicht merkt. Aber bald kommt er zurück und es war keine Embolie. „Es muss möglich sein zu finden, was nicht stimmt mit mir“, wimmert er. Ich riskiere eine kritische Bemerkung. Auch wenn es was andres sein könne, wäre es nicht so geeignet, so ein Übergewicht durch die Gegend zu schleifen. „Aber das weiß ich doch! Das haben die vom andern Krankenhaus auch gesagt. Das hat mein Arzt gesagt. Ich versteh das doch, dass ich mit dem Essen mal kürzer treten muss. Bei uns daheim gibt’s Tage, da essen wir nur Salat mit einem mageren Schinken dazu.“ „Beim Trinken muss man auch etwas aufpassen“, wage ich die nächste Vorhaltung. Ehrlich gesagt, halte ich ihn nicht für einen Trinker, aber verfressen ist er und war er wohl immer.

Ein Freund von mir kommt und bringt ein paar Bücher und meinen Rasierer von zu Hause. In dieser Zeit ist der Dicke mehr oder weniger unansprechbar. Er schnieft und schnorchelt ohne Unterlass, stößt Geräusche wie Angriffssignale aus. Auch der Dritte, den wir unterdessen jetzt im mittleren Bett haben, ein schwieriger Alter, kommt, wie ich von der vergangenen Nacht noch weiß, mit den Störgeräuschen nicht zurecht und er neigt zu aggressiven Zurechtweisungen, die der Bauer allerdings nicht mitkriegt. Mein Bekannter beugt sich zu mir und flüstert: „Wie kann man sich so nur gehen lassen!“ In der Tat ist der Fette, dem sein Hof entgleitet, für Leute, die ihn nur vom äußeren Anblick in diesem jetzigen Zustand her kennen, ein Beispiel für jemand, der selber schuld sein wird.

Der Mann im Mittelbett, der mit dem gestreiften Pyjama ist auf der Treppe gestürzt, bei einem Fest, und längere Zeit bewusstlos gewesen, hat eine Kopfverletzung. Er ist hier, damit ein Verdacht auf Herzinfarkt ausgeschlossen werden kann, aber, auch wenn die Ärzte es nur zögernd zugeben, ob durch seinen Sturz ausgelöst, ob vorher schon merkbar, die Frau sagt, da war nie was, leidet er auch noch unter Symptomen einer Demenz, die nicht so klein sind. Mitten in der Nacht tappst er auf den Schaltern, macht jedes Mal das große und kein einziges Mal das Nachtlicht an, verbringt Viertelstunden auf dem Klo, wenn er zurückkommt, zieht er sich entweder splitternackt aus, legt sich quer übers Bett und brabbelt kindische Sätze. Oder er spricht mit sich selbst: „Was ist denn? Ich muss doch!“, zieht sich seine Straßenkleidung an, die Lederschuhe, packt die Tasche, legt sich eine Weile aufs Bett, geht dann hinaus auf den Gang. Man hat ihn eingefangen und ans Bett gefesselt. Da hat er „Räuberbande! Räuberbande!“ geschrien. Wie gesagt, mit jedem Neuzugang wird es schlimmer. Der Alte starrt mich an und sagt, als hätte er mich überführt: „Dich kenn ich auch. Ich weiß doch, wer du bist.“ Über den Dicken, der jede Nacht schnauft und schlürft und grummelt, sagt der Alte: „Ein Schwein! Der da ist ein fettes Schwein.“

Wahrscheinlich hat der Bauer das nicht gehört. Aber den Siebenbürger Akzent des Alten, den hat er vernommen, wenn er ihn auch nicht wirklich einem Land zuordnen kann. Am Morgen wacht der Alte auf und stellt fest, seine Schuhe sind geklaut, der Fette hat sie gestohlen um zu verhindern, dass er weggeht. Auch das fette Schwein kennt er aber und weiß, wo der gearbeitet hat und dass er unten einen Wagen stehen hat und der soll ihn mitnehmen zu seiner Frau, die nicht weiß, was man treibt mit ihm. Dem Bauern wird das Geschwätz zu viel und er schreit: „Wenn du was willst, lern erst mal richtig Deutsch!“ Natürlich spricht der Alte, als Siebenbürger, ein korrektes, allerdings komisch betontes Deutsch und er schreit zurück: „Ich bin es, der das richtige Deutsch kann, von uns beiden, du kannst ja selber keins!“

Diese Mutter tut dem Bauern nicht gut. In jedem Gespräch hört er sich nach kurzer Zeit wie eine fiepende, nach Rettung beißende Ratte in einer Ecke an. Jedes Mal kämpft er mit seiner Wut. Sie sei schon, sagt er zu mir, eine Resolute, die ihn hier auch schnell rausholen werde, wenn die Ärzte nicht bald was wüssten. Sie sprechen über Saatgut. Ja, ja, morgen ruft er beim Dings an, der Dings wird ihr den Samen bis ans Haus fahren, dann ginge es. Mais, sagt er, als ich frage. Die Zeit läuft ihm weg. Um diese Zeit muss der Mais im Boden sein. Ihr Hof scheint nicht klein zu sein, für zwei arbeitende Personen. Mehrere Dutzend Rinder und Schweine, auf den Äckern Futtermittel, Wein haben sie auch.

Die Schwester ist am Studieren, weit, sehr weit weg. Der Bruder arbeitet im Büro in der Stadt, pendelt mit der S-Bahn. Der kann jetzt ein paar Stunden da und dort dazwischen schieben. Sonst haben sie niemand. Sein Vater? Verunglückt, Arbeitsunfall, vor fünfzehn Jahren. Dann warst du, denke ich, keine zwanzig und ein gutmütiger Fettberg und sie haben dir ein Leben zugeteilt.

Dass er keine Freundin oder Frau, keine Familie hat, wundert einen nicht, wenn man die Überfülle dieses hässlichen Körpers vor Augen hat und hört, wie die Mutter ihn kommandiert. In seinem Fall würde man trotz eines Alters von Mitte dreißig über schwul nicht nachdenken. Jetzt fängt er von sich aus mit dem Thema an. Er hätte schon gar keinen Sexualtrieb mehr, mit all den Infusionen und Medikamenten, die ihm verschrieben werden.

Er erklärt, warum die Mutter nicht zulassen kann, dass er noch mal ins Krankenhaus in ihrer Nachbarschaft kommt. Dort hätten sie vor einiger Zeit alles neu gemacht und die Maschinen, das müsse sich rentieren. Darum würden sie jeden so lange schnappen, wie sie könnten, bei ihm ginge das doch nicht wegen dieser Landwirtschaft. Jetzt hat die Mutter beschlossen, dass er es an der Lunge hat und in eine Privatklinik kommt. Er kündigt es einem Arzt im Praktikumsjahr an, die Mutter holt ihn. Freundlich lächelt der Nepalese. Das gäbe es auf gar keinen Fall.

Die Mutter, eine grauhaarige, kleine Frau Ende fünfzig, merkwürdig ausladend, dennoch mit dem Begriff dick nicht zu beschreiben, fegt, wie stets, unter Hochdruck herbei, schnaubt, wieso der Sohn sich nicht angezogen hätte. Der Nepalese: „Diesen Patienten nehmen Sie nicht mit. Der Zustand ist kritisch.“ Die Frau kümmert sich nicht um diesen kleinen Arzt, sie fegt aus dem Zimmer, ihren Wagen stelle sie also unten vors Tor, ruft sie. Zusammen mit ihr kommt einer von den Oberärzten zurück. Der Oberarzt lässt sie und den Dicken mehrere Seiten Papier unterschreiben. Auf eigene Verantwortung.

Es gehe, sagt der Dicke, ins Schlaflabor. Dann ist er weg.