Text 203: Das Glasperlenspiel

Bild von Klaus Mattes
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Als strebender, vom kleinbürgerlichen Elternhaus aber nicht angeleiteter Jugendlicher suchte ich nach Autoritäten, die mir sagen sollten, was man statt Karl May, Jules Verne, Hans Dominik (deutsche Science Fiction nicht ohne eine gewisse Nazinähe) besser läse. Schließlich verfiel ich auf den unseligen Gedanken, der Reihe nach sämtliche damals auf Deutsch im Taschenbuch erhältlichen Nobelpreisträger zu kaufen und auch zu lesen. Was mich zu Böll, Mann, Camus, Solschenizyn, Faulkner, Kawabata, Sinclair Lewis, Undset, Selma Lagerlöf führte.

„Nils Holgersson“ ist ein hübsches Buch. Beckett ödete einigermaßen. Auch Hermann Hesse, den ich von der falschen Seite her aufzäumte, nämlich „Gertrud“, „Roßhalde“ oder wie diese unerinnerlichen Bücher heißen mögen. Nix „Rad“, „Goldmund“, „Glasperlenspiel“. Den „Steppenwolf“ lasen wir im Deutschunterricht. Das erste Buch, das meinen Klassenkameraden gefiel, klar, dass es nicht wirklich gut sein konnte.

> Liebäugle mit „Glasperlenspiel“.
Oh, das hat noch Zeit, viel, viel Zeit. Das liest du mit ein paar weniger Gehirnzellen, wenn du dich den Siebzig näherst. Du wirst ein weises Buch finden. Dem leider so wenige Menschen nacheifern.

Wie das geht, war, wonach Frau Rot, die ja nie Zeit hat, viel zu lesen, gesucht hatte, die ganze Zeit in Griffweite und wurde nicht entdeckt. Sie hat mich abkommandiert, an einem Sonntagmorgen nach Marbach ins Deutsche Literaturmuseum zu reisen, und mir den Fahrschein bezahlt trotz ihrer extremen Sparsamkeit, damit ich Kunden mit meiner Kenntnis übers „Glasperlenspiel“ bezaubern kann. Obwohl ich das nach dem Vortrag dann nicht wirklich wusste und niemandem erklärt habe, wurde das Buch in der Buchhandlung erfreulich verkauft, als wir an der Kasse die bunte Sonderauflage liegen hatten.

Dieses (gebundene) Buch hat nur zehn Euro gekostet und war mit einer Plaste verschweißt, welche im Normalfall vom Buchhandel weder entfernt noch geöffnet wird. Außen am Buch, aber innen in dieser Plaste befand sich ein Heftchen von 40 Seiten Umfang. Darin standen drei Texte. Einer war eine Lobhudelei von Adolf Muschg, der Schweiz aktueller Suhrkamp-Frischdürrenmatt, leider immer noch nicht mit deren Renommee und Verkaufszahlen, obwohl sie längst tot sind. Dann eine kleine Selbstfeier für den Verleger, Herrn Dr. Unseld, seine eigene Besprechung von „Das Glasperlenspiel“ aus dem Jahre 194X. „Wir danken dem Meister für dieses bewegende, die Härzen öffnende Böch.“ Gesülze.

Dann aber noch: das Nachwort zum Roman aus der neuen Hermann-Hesse-Gesamtausgabe. Da steht was drin. Was für ein Buch es ist. Man merkt gleich, man muss das Buch nicht lesen, wenn man dieses Nachwort kennt. Der extra von München nach Marbach angereiste Vortragsreferent fand dieses Nachwort so nützlich, dass er es die ganze Zeit nacherzählte, ohne es als Nachwort jemals zu nennen. Aus mysteriösen Gründen lag dieses eigentlich eingeschweißte Heftlein neulich alleine und lose im Rotbüro. Vielleicht hatte ein Kunde die Plaste abgerissen, es fiel und ein anderer Kunde hat das plastelose Buch ohne Beiheftlein erworben. Da hab ich’s eingesteckt, noch bevor ich die letzte (halbe) Überstunde abgerissen hatte. Und gelesen im, nach dem Ausbildungsabbruch einsetzenden Zeitüberfluss. Ich wusste dann also, was die Rot den Sommer über gerne gewusst hätte, was sie jetzt auch nicht mehr nachgelesen hätte, denn mit dem Herbst ist der Hesse heuer passee. Die Themen heißen inzwischen Buchmesse und Rowohlt.

In dieser Fibel, in diesem Nachwort steht: Hermann Hesse will uns sagen (und damals den Nazis auch), dass es schlecht ist, wenn das Geistige fehlt und wenn alle über alles reden und keiner weiß richtig Bescheid über etwas. Es sollte Weise geben, die in Armut leben, fern von der Welt. Diese Weisen bilden einen Orden und der ist nicht demokratisch, sondern hierarchisch geregelt. Was die in ihrem Orden so treiben, ist das Glasperlenspiel. Wie’s genau geht, sagt Hesse uns aber auch nicht. Aber es geht so, dass man alles, was der Mensch an hehrer Kultur schon errungen hat, sich auf ein Mal alles vergegenwärtigt.

Meister des Spiels („Magister ludi“) ist der Enddreißiger Jakob Knecht. Toller Name: Magister, aber dennoch Knecht, nicht Wilhelm Meister wie bei Goethe, immerhin Spielmeister Knecht. Der verstorbene Meister-Vorgänger hieß: Thomas von der Trave. Klingeling! Nöö? Thomas! Von der Trave! Fluss, an dem Lübeck liegt. Ja, jetzt, gelle.

Es kommen nur Männer drin vor, weil die Frauen nun leider tumbe Nüsse sind. Damit’s ein Roman wird, damit sich was abspielt, gehört, um Meister zu werden, noch dazu, dass man sich hypothetische Leben seiner eigenen Person in einer anderen Epoche ausdenkt. Diese werden auch erzählt. Jakob in der Steinzeit. Thomas in Indien. Argh!

Indisch gedemütigt erkennt Jakob Knecht schließlich, dass er sich noch mehr von der Welt zurückziehen und seine Existenz der Bildung eines Knaben widmen sollte, des Sohnes eines der gewissenlosen Regierenden (Nazis, darf man übersetzen). Erziehung auf humaneres Leben hin. Der Knabe will nicht recht. Sein Vertrauen muss noch gewonnen werden. Deshalb hopst Knecht ihm hinterher in einen kalten Bergsee. Obwohl er schwer zu Mittag gegessen hatte. Justament ist er schon tot. Game over.

So endet „Fabian“ von Erich Kästner auch in etwa. Das könnte man ja auch mal noch lesen. Ist kurzweiliger. Und wenn du abfährst auf solchen Schwurbel, lies „Auf den Marmorklippen“ von Ernst Jünger. Der gehörte eher zu den Nazis, von seiner ganzen Art her ist das Buch aber auch so.

Übrigens kommt im „Glasperlenspiel“ nichts von Bad Maulbronn oder Basel vor. Es spielt in Kastalien ums Jahr 2200. Wo aus dem Feuer geholt werden die Kastagnetten von Leon.

> Las „Ein Mord, den jeder begeht“
Boah! Ey! Du steigst in meiner Achtung. Von dem Manne hab ich keine Ahnung nicht.

> Lauffen am Neckar nett, Rest öde.
Dieses war mir totalmente neu. Heimito von Doderer beim „Katzenbeißer“-Beißen? Wie das?

> Ein Kunstwerk ohne Message: Ionescos „Kahle Sängerin“.
Leider kann man keine mehrseitigen Texte schreiben ohne jede Bedeutung. Irgendeine wird dann immer rein gelesen, weil der Mensch zur Bedeutung fatal neigt. „Die kahle Sängerin“ will uns etwas sagen, sonst könnte man keinen Unterricht drüber wegfaseln. Ich fand sie klasse, als sie zu Zeiten unserer Landtagsexkursion im Kleinen Haus des Stuttgarter Staatstheaters, das ich damals für lange Jahre das erste und einzige Mal von innen sah, über die Bretter geworfen worden war.

> Kafka tut, als führe aller Unsinn am Ende zu einer Auflösung.
Wieso Unsinn? Also gut. Du musst Bescheid wissen. Nun: Josef K ist der moderne Mensch an sich und als solcher.

Das heißt, dass er nicht mehr als autonomes Individuum verfügen kann über sein Leben, wie das Goethe und der Galeerensklave Onculus Tommus noch konnten. Sondern als Streifen in einem Strichcode von Satelliten, CIA-Programmen, RTL-Game-Shows und der Werbung behandelt wird. Infolge eines brazilmäßigen Fliegenschisses ist er im Zuge des „Sprunges nach vorn“ verwechselt worden mit dem im Rahmen eines Schauprozesses zu liquidierenden WTC-Office-Clerk Will Smith, was ihm niemand allerdings je sagt. Er versucht, seine Unschuld zu beweisen, was ganz vergeblich ist, denn dieses System einer gewissen Rot macht nie einen Fehler. Wenn es welche macht, radiert es sie sofort aus. Außerdem ist er, der besagte Mensch, nicht schuldlos, sondern hat Dreck am Stecken. Weil er als Fünfjähriger seinen Eltern beim Geschlechtsverkehr zugesehen hat, weil seine Vorhaut fehlt und sein Papa ihm eine gelangt hat, als er lachte, als jener in Hundescheiße getreten war. Weil er nichts gegen den Hunger in der dritten Welt tut. Weil er zwischen seinem 19. und 25. Lebensjahr mit (ausgebeuteten) Prostituierten oft verkehrt hat. Das auch noch ohne Gummi! Es war mit anderen Worten so, als ob seine Scham - nicht seine Schande - ihn, ich erinnere mich richtig an gar nichts - überleben wollte. Außerdem war er Mensch. Er musste sterben. Was immer er sonst anstellen mochte.

> Mich wundert, dass es möglich war, eine Volksgruppe auszuklammern.
Mich, der ich montags Eis esse mit den Ghanaern, dienstags bei den Aramäern koche, mittwochs sauniere mit den kasachischen Mennoniten, donnerstags mit Tamilen shoppe, freitags mit Gehörlosen tanze, samstags mit Down-Sydromern was singe und mit den Pädophilen sonntags Briefmarken bewundere, wundert das schon auch einigermaßen. Aber das waren eben andere Zeiten damals. Die Fremde begann im nächsten Dorf.

> Tschechow, an dem ich nage ...
Sollte ich ihn mal wieder zur Hand nehmen? Habe ihn recht unterhaltsam in Erinnerung. Schwermut, naturgemäß. Er konnte schreiben, oder?

> Alles ist grau, Leben eine Tragödie.
„Nach Moskau! Nach Moskau! Ach, wenn wir in Moskau wären!“ Der Mann hat Wert drauf gelegt, dass seine Theaterstücke, die ja so auch sind, als Komödien betrachtet werden. Dürrenmatt und Bernhard haben es ähnlich dann auch behauptet.

> Bei den Erwartungen an den Sozialismus wird’s mir schwindlig.
Anton Tschechow war kein Sozialist im kommunistischen Sinne. Seine größte Begabung war zu sehen, was um ihn vorging, wie da geredet wurde, was dann getan wurde. Das festzuhalten, dass es uns heute noch interessiert. Was daran liegt, dass man die Oberfläche umlackieren muss, dann sind wir es. Dass jemand jung, leidenschaftlich, engagiert, „gut“ ist oder so redet, heißt nicht, dass er das Sprachrohr vom Herrn Tschechow wäre.

Dass durch Russland „ein Ruck gehen“ musste (Roman Herzog), pfiffen die Raben von den Zwiebelminaretten. Dass dieser Ruck aussehen musste, wie er 1917 ff. schließlich ankam, fand jedoch nur eine verschwindend kleine Minderheit. Die erste Revolution war 1905, da sah es nach Demokratie aus. Vladimir Nabokovs Vater, Petersburger Großkopfeter, welcher später dann zum „Reaktionär“ avancierte, freute sich. Tschechow war das allerdings alles egal. Er war seit 1904 tot. Gestorben, wie es sich gehört für proletarische Avantgarde, in Badenweiler.
Viele Grüße
vom Rolf

PS. Ist mein „Ahoj“-Manuskript überhaupt angekommen? Kriegst du hier das Attachment auf? Irgendwas ist los mit gmx. Ich krieg keine Attachments auf.