Hock bei der Startrampe I - Der Ideentresor

Bild von Klaus Mattes
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Am hinteren Chart, das sonst nie eingesetzt wird, hängt ein großes leeres Blatt mit dem Titel „Ideentresor“ oben. Ganz am Anfang und auch jetzt zwischendurch noch, wenn Frau Henkenhaf ihn wieder bemerkt, werden die Leute gebeten, hierauf ihre Ideen einzubringen, was man in unserer Veranstaltung „sonst“ alles noch machen könnte. Also, was nicht auf dem verteilten Kursprogramm schon steht.

Erster Vorschlag, klar doch: „eine externe Betriebsbesichtigung“. Das kennst du aus jedem Kurs, wo du je vorher gewesen bist. Weil man wieder raus an die frische Luft kommt, was anderes sieht als diesen einen Raum, reichlich Zeit für hin und zurück draufgeht, mehrere Gelegenheiten sich dann bieten, wo man nicht im Blick von Frau Henkenhaf ist, sich nach Laune mit Leuten unterhalten kann, die man eher mag.

Herr Störk hat die Exkursionen angeregt. Einer von den älteren Teilnehmern. Ein kleines, kregles Männlein, das viel schwafelt, zu allem etwas zu sagen hat; meist schaltet man dann irgendwann ab. Wenn man Herrn Störk hört, muss der mehr oder weniger sein Leben in solchen Maßnahmen zugebracht haben. Die aus der Startrampe kannten ihn vorher auch schon. Sein Lebenslauf-Muster - nach deren Vorstellungen - hatte er in einer anderen Maßnahme schon erstellt und konnte das von zu Hause mitbringen.

In den Ideentresor kommt als Nächstes: Excel. Wenn in einer Maßnahme die Dozenten es nicht gleich von sich aus auf den Platz setzen, wird Excel, vorher aber noch Word, jedes Mal vorgeschlagen. Das fehle, darin müsse man sich üben, um eine qualifizierte Arbeit zu finden. Programme, von denen heutzutage irgendwie jeder längst weiß, ausgenommen immer genau die Menschen, die man in solche Kurse abgeordnet hat.

Im Allgemeinen haben sie zwar ein Smartphone, unerfindlich, wie sie mit Hartz ihre Verträge zahlen, aber einen PC haben sie all die Jahre noch nie besessen. Was so viel heißt wie: Nirgendwo liegt der Lebenslauf von ihnen im pdf-Format vor. Niemals, außer damals, als sie schon einmal in so einem Kurs gewesen waren, sind die Bewerbungen in Mailform verschickt worden. Es gibt Menschen, die sind beinahe siebzig Jahre alt und in Mittelasien groß geworden, wo es Computer für alle Bürger nie gab. Und hinterher mussten sie sich Autos kaufen und Häuser bauen, da blieb für Computer nichts über. Sie beherrschen auch oft die Sprache nicht wirklich, obwohl sie seit zwanzig Jahren hier schon wohnen. Ihr Leben scheint auf Russisch abzulaufen. Türkische Teilnehmerinnen bringen einen Mann mit, der neben ihnen sitzt und vor jedem Satz, den sie sagen, etwas in ihr Ohr flüstert. Sie sagen meistens aber sowieso nichts.

Von seiner Konzeption her ist viel Luft in unserem Kurspaket. Wie natürlich bei jedem Kurs für die Hartz-IV-Empfänger. Wir wollen doch die Startrampe nicht extra an den Pranger stellen von wegen Mogelkurspackung. Es gibt aber immer ein paar alte Kurs-Hasen wie Herrn Störk oder auch uns, Herrn Bross, oder die Frau Brückner, die grinsen sich eins. Wenn zum Beispiel so ein Ideentresor ausgefüllt werden muss, damit die Leute glücklich werden.

Die Kurs-Luft sammelt sich vor allem an Nachmittagen. Die Teilnehmer, die nur halbtags müssen, sind dann alle weg. Es können nur Sachen stattfinden, wo man den Kurs erfolgreich abschließen kann, ohne je was mitgekriegt zu haben. Hierfür sind die von Herrn Störk angeregten Excel-Lektionen geeignet. Es schadet keinem, wenn er das übt. Komischerweise sind sozusagen alle, die nie einen PC hatten, Halbtagsteilnehmer, alle, die zu Hause einen täglich einschalten, alte Kurshasen wie Störk und Bross.

Nachmittags werden Stunden verbraucht, in denen still und leise, jeder für sich, alle selbstständig, die Unterstützung von Frau Henkenhaf wird kaum abgerufen, das Internet vor und zurück durchforsten nach Stellenangeboten. Herr Weise beschwert sich in den Pausen, der Kurs wäre nichts als Zeitverschwendung.

Eines Tages mault Herr Weise offen. Stehenden Fußes wird umgesattelt. Die eigenen Ideen der Teilnehmer, ihre Bedürfnisse, der Ideentresor tritt also in Kraft. Es wird nicht mehr im Internet gesurft. Es wird Excel gelernt. Vom nächsten Tag an verteilt Frau Henkenhaf kopierte Aufgaben-Blätter. Wieder ist es sehr still. Wieder sitzt jeder am Bildschirm, zerbricht sich den Kopf, benötigt Frau Henkenhafs Unterstützung nicht. Jeder Teilnehmer will der Erste werden. Die Menschheit ist doch sportlich veranlagt.

Unser erster Nachmittag Excel:
Microsoft Excel ist ein Tabellenkalkulationsprogramm. Hierbei werden mathematische Operationen zwischen den Inhalten verschiedener Kästchen („Zellen“ genannt) zu größeren Komplexen verknüpft. Damit es geht, trägt jedes dieser Excel-Tabellen-Kästchen seinen eigenen Namen, beispielsweise heißt es C3. Man sucht sich ein anderes Kästchen und in dieses andere schreibt man ein Gleichheitszeichen und dann: C3. Dann eine Rechenoperation, sagen wir: geteilt durch. Jetzt noch den Namen von einem weiteren Kästchen, sagen wir: C4. In Kästchen C4 wird später die Ziffer kommen, durch die man teilen will. Das Kästchen, in welches wir momentan die Rechenoperation einschreiben, ein Kästchen, das weder C3 noch C4 ist, wird dann das korrekte Ergebnis zur Geteilt-Rechnung aus dem Nichts entstehen lassen, egal, wie oft wir die Werte in Kästchen C3 und C4 dann noch ändern. Man meint anfangs, ist doch wie Taschenrechner. Aber das tippt sich dann alles von allein, da müssen nur noch Zahlen hinzu, keine Rechenzeichen mehr. Man kann das auf Papier auch ausdrucken. Acht durch zwei ist beispielsweise vier. Und viel, viel schwierigere Sachen. Hilfe zur Selbsthilfe. Wie in Hartz-IV-Empfänger-Trainings doch jedes Mal. Da ist in zehn Jahren den Leuten so oft und schon so viel geholfen worden. Aber haben Sie was von Dank gehört? Die Menschheit ist zwar sportlich, aber auch undankbar.

Fortsetzung des Berichts, der zweite Excel-Tag:
Frau Henkenhaf teilt Aufgaben aus. Die auf dem Papier stehende, teilweise schon vorausgefüllte Tabelle muss man übertragen in sein eigenes Excel, die Rahmen, die Schattierungen und so, dann mit Rechenoperationen hinterlegen, bis alles flutscht. Es geht dabei um Konzertveranstaltungen, bei welchen die Zahl der verkauften Karten abgezogen wird von der Zahl verfügbarer Plätze. Dann wird die Zahl der verkauften Plätze mit dem Preis der Karten multipliziert. Hinten kommt eine Spalte, in der zu lesen sein wird, wie viele Euro von Konzert zu Konzert umgesetzt wurden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Euro-Ziffern zwei Dezimalstellen nach dem Komma haben sollten, Komma, keinen Punkt, und dass sie rot werden müssen, falls der Umsatz negativ wäre. Obwohl negative Umsätze nicht wahrscheinlich sind.

Aber bald noch Schwierigeres. Dreisatz. Prozentrechnung. Die Teilnehmer werden schnell so gut, dass Frau Henkenhaf ihre schwersten Blätter ausgeben muss. Wenn nur an den Nachmittagen die Halbtagsleute auch da wären! Weil die allermeisten noch gar nicht verstanden haben, wie man einen Computer in Gang hält, würden sie große Probleme mit diesem Excel kriegen und Frau Henkenhaf wäre nonstop gefordert. So ist das nun nicht. Alles geht still, leis und luftig und Herr Weise beklagt sich nicht mehr.

Was alles wohl noch hervorgehen wird aus unserem Ideentresor?

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