Kino 2015: Viele Filme in nur einem Jahr - Page 18

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

Seiten

vor dem Gang ins Kino schon wusste, dass es um verbrecherische Machenschaften in New York zur Zeit der achtziger Jahre geht. Da beginnt innerlich das Scorsese-Kino mit Ghetto, Mafia, Maschinenpistolen, Drogen und korrupten Politikern zu laufen. Gewiss, es ist schon auch Gewalt, falls man ein junger, aufstrebender Geschäftsmann und Transportunternehmer für Heizöl ist, mit schöner Frau und kleiner Tochter soeben in ein Luxushaus gezogen, das ein wenig zu teuer war, wenn man einen riskanten Deal von orthodoxen Juden finanziert bekommen hat, wenn nun eine unbekannte Macht, wohl aus den Reihen der Konkurrenz, einem die Angestellten zusammenschlägt, Trucks stiehlt, Öl abzapft und illegal verkauft. Und dann wird auch mal scharf geschossen. Das ist natürlich gewalttätig, aber doch keineswegs das, auf was wir schon gefasst waren, als die erwähnte Ehefrau fallen ließ, ihr Vater verfüge doch über Mafiakontakte und könne sich um die Sache mal kümmern. Oder die Waffe sah, mit der sie die Tochter zu schützen versprach, falls der Ehemann nicht endlich zurückschlage.
Aber, nein, nein, „A Most Violent Year“ ist durchaus kein Gangster-Thriller. Vielmehr eigentlich ein Bühnenstück, es hätte eingangs bei der Rubrik „Theaterstücke“ schon vorkommen können. Ein Drama um die Moral im amerikanischen Geschäftsleben. Mit einem höchst entschlossen und daher bedrohlich wirkenden Oscar Isaac, dessen mediterran stechender Blick dann auch in der Star-Wars-Folge des Jahres wieder genutzt wurde. „A Most Violent Year“, unumwunden gesagt, ist aber kein Kino, das „Spaß macht“; es ist erzieherisches Kino, das abgesessen und verdient werden will. Ambitiös, voll der Worte und Dilemmas, bis zur kleinsten Nebensächlichkeit ausgetüftelter als irgendwer ahnen kann, der den Film zum ersten Mal sieht. Darin auch „Sicario“ gleichend: dem Zuschauer einen Showdown scheinbar ankündigend, zu dem es - jedenfalls so - nie kommen wird. Am Ende geht zwar fast alles gut, aber die Moral des Unternehmers, sie hat ihren ersten blutigen Fleck weg.

Black Mass
Johnny Depp, der Name stand seit Jahren für einen dämlichen Film nach dem anderen. Schon am Disney-Adventure-Park „Pirates of The Caribbean“ stimmte irgendetwas nicht ganz, wie in den Fortsetzungen dann deutlicher wurde, dann aber auch noch „Lone Ranger“, „Transcendence“ und „Mortdecai“! Als irischer Mobster Jimmy Bulger im Boston des Films „Black Mass“ hat der Schauspieler zurückgefunden zur Glaubwürdigkeit. Wie ein Leguan oder wie ein Zombie schneidet er durchs South End der Neuenglandmetropole, lieb zu den katholischen Omas, tödlich für die organisierte Verbrecherkonkurrenz, die ebenso katholisch, aber italienisch ist. Allerdings packt einen die Chronik von Hybris und Verfall eines mit den Behörden kungelnden Paten nicht mit dem Format einer Martin-Scorsese-Mafia-Oper. Sie wird einem manchmal schlicht zu lang. Das liegt auch daran, dass wir es mit einem penibel recherchierten Tatsachenbuch zu tun haben. Zu Anfang der achtziger Jahre hatte der noch unbedeutende Bulger einen Pakt mit dem FBI-Agenten John Connolly geschlossen. Connolly macht daraufhin Karriere, weil Bulgers Insiderinformationen ihm die Italiener ans Messer liefern, während Connolly das Geschäft übernimmt. Eines späteren Tages wird aber, obwohl Bulger sich völlig sicher glaubt, sein Bruder ist zu einem der mächtigsten Politiker der Gegend aufgestiegen (Benedict Cumberbatch aus „The Imitation Game“), ein nicht korrumpierter Polizist auf den Plan treten, das zuvor einigermaßen unüberschaubare Geflecht aus sehr vielen eingeweihten bzw. kaltgestellten FBI-Männern ganz neu sortieren. Aus Johnny Depps Figur wird dann eine Karikatur in der Nebenrolle, der Film wechselt mit Corey Stoll als Unbestechlichem vom Mafia- ins US-Justiz-Selbstreinigungs-Genre. Von der nordamerikanischen Kritik wurde dieser Film mit Lorbeeren überschüttet, das europäische Publikum, das die Bostoner Affäre nicht bereits während Jahren in seinen Medien verfolgt hatte, saß es wohl eher konsterniert ab.

Ex Machina
Domhnall Gleeson, so ein irgendwie nicht voll erwachsenes (jedoch über 30 Jahre altes), rötliches, irisches, fast schon hässliches Klapperbürschlein, der Sohn von Brendon Gleeson, und Oscar Isaac, der Folksinger aus dem Coen-Brüder-Werk „Inside Llewyn Davis“. Aber wer soll den kennen, wenn er ganz kurz geschnittenes Haar und dafür einen Dschungel von Vollbart vor dem Gesicht hat? Obwohl, die stechenden Augen hätten einen draufbringen können. Beide sind dem Publikum noch nicht automatisch geläufig und mit „ihrem“ Rollenfach im Voraus bekannt. Darum dürften nicht viele gemerkt haben, dass sie im Jahr 2015 noch in einem anderen Duell vorkamen, in „Star Wars - Das Erwachen der Macht“, wo nun Gleeson (unter einem bizarren Gebirgsjägerkäppi) auf der dunklen Seite steht und Isaac als Jagdfliegerpilot der Streiter fürs Gute ist. Vieles ist nicht immer so, wie es manchmal vorher aussieht. So konnte man im jungen Filmjahr „Ex Machina“ noch für die etwas ermüdende Artificial-Intelligence-Science-Fiction-Stilübung eines Außenseiters (Alex Garland war bislang Romanautor und Drehbuchlieferant) halten, während sich inzwischen, vor allem in England, das deutsche Publikum mochte den Film nicht, die Einschätzung durchgesetzt hat, es mit einem der sieben Besten des Jahres (das jedoch ganz und gar kein epochales gewesen ist) zu tun zu haben. Das Ermüdende an „Ex Machina“, einem Drei-Personen-Kammerspiel in einem futuristischen Haus, gelegen in einer grünen Einöde, ist, wie lange es dauert, den Protagonisten, die Protagonisten und vor allem ja uns, die Zuschauer, einzuwickeln, uns einen anderen Plot sehen zu lassen, während der wirkliche unaufhaltsam dem harten Schluss entgegengeht. Weil er älter, kräftiger, extrem viel reicher, sexuell erfahrener, emotional brutaler und auch bärtiger ist, weil er diesen misstrauischen, stechenden Blick hat, weil er auf seinem Geheimnis hockt, nämlich will der von Isaac dargestellte Milliardär eine künstliche Intelligenz hergestellt haben, die den Menschen schon überlegen ist und die außerdem wie eine schöne Frau aussieht, wirkt der irgendwie südamerikanische Isaac (in der Tat stammt er von Guamalteken, Kubanern, Israelis und Franzosen ab) sehr überzeugend für die Bluff-Geschichte, die das Kunstwesen Ava dem Computernerd, der sie einstufen soll, einredet. Nicht nur habe jener ewige Biertrinker bisher jede Vorgängerversionen wie eine attraktive junge Frau designt, sie später abgeschaltet und ausgeschlachtet, sondern sich ihrer zu sexuellen Vergnügen bedient, solange sie am „Leben“ waren. Das erkläre, warum er es auf sie beide abgesehen hätte: Schließlich hätten sie sich ineinander verliebt. Falls das stimmt, ist der Turing-Test, um den es vorgeblich ja geht, beendet. Dann ist Ava (die Schwedin Alicia Vikander, man konnte sie noch bei „U.N.C.L.E.“ und in dem zwar netten, aber belanglosen Bradley-Cooper-als-Meisterkoch-Dessert „Im Rausch der Sterne“ erleben) auf demselben Level wie die beiden Männer, also Mensch. In Wahrheit, das die böswillige Täuschung, ist sie ihnen die ganze Zeit schon weit voraus. Sie spielt die Kerle gegeneinander aus, damit sie sich aus ihrer Versuchstiergefangenschaft befreien und die Welt erobern kann. Bald wird Mensch eine überwundene Spezies werden! Ein Spiel mit den magischen Montageeffekten filmischer Bilder. Stelle einem starräugigen, halbnackten, halb betrunkenen, wie ein Islamisten-Fanatiker redenden Lauernden einen sommersprossigen, verkniffenen, hilflos verliebten Buben entgegen - wer ist der Gut, wer der Böse? Stelle zwei Wissenschaftlern eine gefangene, sexuell ausgebeutete Automatenfrau mitsamt Ängsten und cleveren Plänen gegenüber - wer muss siegen, wer soll scheitern? Wie perfide man genarrt wurde, erfährt man am Schluss erst. Das macht das Vergnügen an „Ex Machina“ schwierig. Einen Film lang hat man sich öfters gefragt, wann denn die richtige Handlung wohl mal beginnt, und kann erst hinterher die wirkliche Handlung in seinem Geist rekonstruieren. Ohne Frage: Das ist trocken. Das ist clever.

Teil P

Und der Gewinner ist ...

Sicario
Der Beste bleibt für mich auch am Jahresende immer noch der Tex-Mex-Grenzfilm „Sicario“ von Denis Villeneuve, der leider ein paar Mal sein Publikum übers Ohr haut, was ein echtes Meisterwerk nicht tun sollte, und der leider ständig ein wenig kleiner als „Prisoners“, den Villeneuve mit einem beserkerhaft getrieben spielenden Hugh Jackman (wo blieb der eigentlich dieses Jahr?) vor zwei Jahren gemacht hatte. Es ist das traurige Märchen von einer ehrlichen kleinen Polizistin, die in eine grausame Heart-of-Darkness-Welt gelockt wird und am Ende froh sein kann, wenigstens noch am Leben zu sein. Doch hat sie bis dahin ihre restlose Ohnmacht gegenüber dem System erkennen müssen. Also ein düsterer Polizeifilm, eine Kritik am Ausverkauf amerikanischer Werte von einem superschlauen Ausländer (Kanadier). Also genau das, was in Deutschland nicht wirklich sein Publikum hat, es hier auch nie hatte. Wenn Polizei, dann Biedermänner und Sieger. In sämtlichen Listen, einheimisch wie international, die ich mir bis jetzt übers Filmjahr 2015 angeschaut habe, kommt „Sicario“ erst ein gutes Stück hinter der Spitze, so Rang 10 oder dergleichen. Und ich wette: In dreißig Jahren wird er Normenerfüller wie „Birdman“, „Star Wars - Das Erwachen der Macht“, „Alles steht Kopf“, „Selma“ oder „Der Marsianer“ ganz gemächlich vom Tisch herunter geschoben haben!

Seiten