Lebenskünstler U: Aufgehende Lichter - Page 9

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

Seiten

der leeren, finsteren Halle abtauchten! Mein Gott, da drin geht es ab!, dachte Ralf, jetzt um diese Uhrzeit ganz bestimmt. Sofort zwängte er sich durch die Lücke ...

... und erlebte ein Déjà-vu. Wie im Park ging das zu. Ein geräumiger Freiplatz, keinerlei direkter Lichteinfall, Stahlträger waren seitlich so verteilt, dass dahinter zwei völlig dunkle, offenbar unbenutzte Seitenschiffe der Halle entstanden waren, während vor den zwei Reihen der Stützen jeweils eine lange Reihe von Figuren sich aufgestellt hatte, die sich über mehrere Meter Zwischenraum hinweg die Köpfe zukehrten. Mit der Zeit gewöhnten sich die Augen. Beharrlich stromerten Männer zwischen den beiden Reihen oder hinter ihnen. Die aber immer nur standen, stellten stumme Gelangweiltheit vor. Ralf machte eine erste, vollständige Runde. War klar, das musste so sein, wenn man neu hereinkam, die Marktlage musste man checken und sich selbst einstufen lassen.

Guter Gott! Das waren fast ohne Ausnahme nur Blutjunge, manche davon hatten sich vielleicht hochstapelnd für achtzehn ausgegeben, um ins Blue Bossa überhaupt rein zu kommen, so gut wie niemand war älter als sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. Klar, sahen die Meisten aus wie Zucker, soweit man das in der Düsternis beurteilen konnte. Kam man in Sichtweite bei den Leuten, starrten sie immer schon auf den Boden rund um ihre Sneakers herum oder auf die schwarzen Lederstiefel.

Am Baustellenzaun wurde gerüttelt. Eine Stockung war entstanden, weil eine größere Gruppe von kaum der Grundschule Entwachsenen, die Gesichter unter Baseballmützenschirmen einheitlich versteckt, wie in einem Hühnerhof den Boden scharrte, sich aber nicht weiter vor zu trauen schien. Das Gackern der Kleinen fiel wohl nicht nur ihm unangenehm auf.

Auf die weit über hundert Köpfe zählende Versammlung hatte sich eine Decke weihevoller Andacht gesenkt. Nicht einmal eine Zigarette anzuschnicksen traute sich Ralf noch, sah auch sonst nirgends jene kleinen rötlichen Lichtpünktchen, die im Park manchmal hilfreich gewesen waren. Eine mehr oder weniger religiöse Seelenzugewandtheit schien Altäre in den finstersten Ecken des Gefildes errichtet zu haben. Dort konnte man, wenn man sich Mühe gab, lautlose Zirkel von jeweils drei oder vier Leibern erkennen, die mehr oder weniger nackt bereits waren und die eine oder andere Öffnung an entsprechende oder entgegengesetzte Öffnungen anderer Körper gedockt hielten. Immer standen aber um diese Drei oder Vier acht oder zehn Weitere, ohne direkten Kontakt, glotzten teils seriös bekleidet, teils waren bei vorgehaltener Hand die Hosenschlitze auch leicht geöffnet und wurde versponnen gezärtelt, gemolken und geschwenkt, was nach und nach offenbar als Einladung zur Mithilfe an die diskret verweilenden Nachbarn aufgefasst werden konnte, jedenfalls bald einmal aufgefasst wurde.

Natürlich, den Altersdurchschnitt durchbrach Ralf auch hier um mindestens zehn Jahre und oben im Licht war klar gewesen, dass niemand ihn mochte, wenn man ihn vorurteilsfrei mustern konnte. Aber in diesem Moloch hier unten würden gänzlich andere Gesetze gelten, spekulierte Ralf. Anschluss, falls überhaupt, fände er nur hier noch. Orgien waren aber nun ganz und gar nicht Ralfs Ding. Nämlich kriegte man bei denen nie diejenigen, die man wollte, sondern man kriegte immer Irgendwas, ach was, kommt ja nicht so drauf an, wurde aber, während man sich hineinsteigerte ins Pansexuelle, hinterrücks und seitlich von zugelaufenen ausgefuchst feigen Abstaubern am Ende selbst schon auch noch verfrühstückt, man wusste nicht, wie einem geschah. Und wenn alles wieder vorbei war, tat es einem bitter Leid und Gott musste man hinterher um Verzeihung bitten für die unausrottbare Dummheit, jedes Mal.

Also lieber nicht mitmachen in den Ecken, besser, schweigend wartend sich in die Reihen zu stellen, wie es fast alle machten. Verboten von vornherein, sich einfach irgendwo hineinzuquetschen, dass Nebenmänner vielleicht hätten etliche Zentimeter auf die Seite rutschen müssen, Nebenmänner, zwischen denen womöglich ein zarter Faden der Liebe sich längst durch die Lüfte spann. Unmissverständlich freie Plätze in den zwei Reihen, zwischen denen unentwegt auf und ab gegangen wurde, gab es aber nur noch an ihren alleräußersten Enden. Dort fand Ralf einen Platz, einen schlechten, denn wer ging und suchte, nahm auf keinen Fall den Erstbesten oder den Dritten, der ihm auffiel, Besseres konnte immer noch kommen, aber den Allerletzten, den Ralf gewissermaßen hier zu stellen hatte, den nahm naturgemäß ebenfalls keine Sau.

In Wahrheit stand Ralf aber nicht am alleräußersten Ende der Männerreihe, sondern es standen noch zwei rechts von ihm und links von ihm Dutzende. Er spähte nach links, er linste nach rechts. Sofort ging der links von seiner Seite weg. Alarmiert riss Ralf den Kopf herum und sah nach dem Rechten. Da ging schon auch der Rechte. Und als in einem gewissen Abstand der Rechtsaußen isoliert verblieben war, machte sich dieser auch davon. In der Linie auf dem Appellhofplatz war Ralf zum Schlusslicht geworden. Ob er der Älteste auf der Strecke war, konnte er wegen den schlechten Lichtverhältnissen nicht eigentlich herausbringen, aber, soweit er gesehen hatte, war er der einzige Mann hier unten, der eine Brille trug.

Jetzt war er erst mehrere Minuten aufgeregt durch die Halle gerannt, hatte die Orgiasten in den Ecken angestiert, hatte sich unbeholfen nicht getraut, irgendwo sein vorteilhaftes Plätzchen zu erobern, war bis ans Ende der langen Schlange ausgewichen und mehr oder weniger alle hatten es mitgekriegt. Und wie als Krönung seiner Tollpatschigkeit hatte er zuletzt Anlass dazu gegeben, dass drei Leute sich einen besseren Platz hatten suchen müssen. Wenn hier in der Halle das nur ansatzweise so lief wie im Park zu Hause, dann war Ralf so schweinemäßig allseits unten durch, wie man nur sein konnte. Freilich, formal hatte niemand etwas mitbekommen, später befragt, hätte gewiss nicht ein einziger sich besinnen können, Ralf überhaupt jemals irgendwo begegnet zu sein, inoffiziell aber war über ihm der Stab gebrochen, schwante ihm.

Schräg gegenüber in der anderen Reihe überwachte ein schlanker Junge mit tief herab gezogenem Mützenschild die Sauberkeit seiner Nike-Schuhe. Zu dieser frühen Morgenstunde wäre Ralf in Reuenthal daheim im Park schon längst nicht mehr gewesen, schon längst hätte er im Bett gelegen und geschlafen, nachdem er aber im Park zumindest einem einen geblasen hätte. So ein Zweiundzwanzigjähriger wäre das wohl kaum gewesen, aber was überhaupt war ein Zweiundzwanzigjähriger wert, von dem man nur Mützenschild und Nikes sehen durfte? War er so tief gesunken, sexuelle Schnäppchen-Vergünstigungen von einer unschlüssigen

Seiten