BILD will nicht (nicht in erster Linie) anti-aufklärerische Meinungen suggerieren oder indoktrinieren. BILD will Kohle machen mit geschriebenen Texten, die „das Volk“ gern, freiwillig und gegen Bezahlung verschlingt. Das will schon was heißen in Zeiten der Aufmerksamkeitsverknappung und Dauerberieselung. Und es geht immer noch, indem man unter dem Siegel „Zeitung“ etwas wie „Information“, „Berichterstattung“ abliefert, was doch korrekterweise „Geschicht-chen erzählen“ genannt werden müsste. Indem man nicht sagt, was die Leute denken sollten, sondern, was sie von sich aus längst schon denken, glauben, meinen, wissen, hoffen, fürchten. Genau das kaufen sie am allerliebsten.
Für einen wie mich ist das nicht so schön, wenn BILD eine ganze Woche lang Geschichtchen bringt, wonach die Hartz-IV-Empfänger so gut wie alles anstellen, um bloß nicht mehr arbeiten zu müssen. BILD fragt am Ende dieser Woche den Chef der Bundesagentur für Arbeit: „Kann es unter bestimmten Voraussetzungen nun doch noch sinnvoll sein, Hartz IV nicht zu kürzen?“ (Hartz IV entspricht theoretisch etwa 10 Euro am Tag für absolut alles außer Miete, Heizung und Rundfunkgebühren, also auch für Zeitungen, Versicherungen, Schuhe, Zigaretten, Handy und Internet.) Nein, so eine Wochenstrecke Presse ist für mich nicht schön, für „die Leute“, „das Volk“, für „wir“ dagegen ist das genau richtig, denn es bestätigt, was man sich immer dachte. Und ist weder vom Großkapital noch von der CSU bestellt worden.
Andauernd bin ich neu verblüfft, wie verdammt gut die das können. Woher wissen die, was die Einfältigen sich so durcheinander träumen, haben die den siebten Sinn?
Traurig hingegen, wie sie ihre eigene BILD-Werbung, also die Werbung für ihr Zentralorgan der Geschichtchen zum gegenwärtigen Tage verkommen lassen.
Sie haben erkannt, dem Kunden können wir auf keinen Fall klaren Wein einschenken, was er bei uns zu sehen und lesen bekommt. Damit würden wir dem Kunden sagen, was er eigentlich will, nämlich nicht mehr wissen und auf gar keinen Fall mehr denken, sondern immer und jeden Tag ein Minihäppchen schöner Literatur für alle, denen Bücher zu langweilig sind.
Sagen wie doch etwas anderes, was auch gut klingt, beispielsweise dass BILD unbequeme Wahrheiten aufdeckt, unbequem nicht für die BILD-Käufer, sondern für die, die auf der Sonnenseite des Lebens sind.
1. Ein ausgebeuteter Angestellter blitzt wieder und wieder beim Zigarre rauchenden Boss ab mit dem Versuch, eine Gehaltsaufbesserung zu erbetteln, bis er droht, die Geschichte in BILD bringen zu lassen. Jetzt schenkt der Boss ihm Cognac ein. Er schmeichelt ihm: „Mein Gott, haben Sie schöne Schuhe!“ Irgendwie scheint tatsächlich niemand aufzufallen, dass er in BILD noch nicht ein einziges Mal eine Geschichte gesehen hat, in der ein kleiner Angestellter, ein einzelner solcher, um Gehaltserhöhung bat und abgeschmettert wurde. (Also theoretisch würden sie es bringen, wenn es nicht immer so schnell Cognac und schöne Schuhe gäbe.)
2. Die nächste Geschichte ist parallel konstruiert. Ein Vermieter setzt seinen Mieter solange unter Druck, bis dieser ankündigt, er bringe den Fall der BILD-Mannschaft zur Kenntnis. Schon fallen uns sechzig bis siebzig Artikel ein, mit denen BILD deutschen Mietern erklärt hat, eigentlich könnten sie 20 Prozent weniger zahlen für das, was sie bekommen.
So also war es losgegangen. Aber auf die Dauer war das zu anarchisch, darum wurde, sobald das Schema vom Adressaten gelernt war, das Geschichtchen immer mehr ins Historische und Entertainment-Fiktive (Karl May) hinaus verlagert.
3. „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.“
BILD zeigt ein Archivfoto von Doktor Martin Luther King.
4. „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.“
Dieses Mal ist es Mahatma Gandhi. Gesellschaftlich noch weiter weg (Indien statt USA), historisch auch weiter weg (1930 statt 1968).
Dasselbe Konzept geht noch entkernter, noch belangloser.
5. „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.“
Albert Einstein.
Dessen Theorien BILD dem Volk stantepede hinterbracht hätte, hätte es existiert. Schade, schade.
Im weiteren Verlauf der Kampagne wurde das Muster ins Private, Familiäre, Schwankhafte transponiert:
Zwar einmal noch mit dem Chef: 6. „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.“
Hier sagt der tollkühne Angestellte zum Chef: „Ha. Ha. Chef, Sie sind nicht witzig.“
7. „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.“
„Papa, ich bin schwul.“
Wir gedenken der BILD-Chefredakteure, die das zusammen mit Guido Westerwelle, Ole von Beust, Volker Beck, Klaus Wowereit ihrer Leserschaft offen erklärt haben.
8. „Jede Wahrheit braucht eine Mutige, die sie ausspricht.“
„Ja, mein Busen ist gemacht.“
Für die Leute, die am Glaskasten bei der Haltestelle warten, fällt das gewohnte Witzchen mit dem rot-weißen BILD-Signet ab. Was sie sonst von BILD bekämen, erfahren sie nicht. Ein kleines Lächeln und einen großen Busen Tag für Tag.
9. „BILD. Neuigkeiten leider erst seit 1955.“
Dazu bekommt man Abbildungen sozusagen aus dem Schulbuch für Geschichte gezeigt. Adam sollte den von Eva gereichten Apfel nicht essen. Die Dinosaurier sollten sich vor Meteoriten ducken. Die Trojaner sollten Geschenke nicht annehmen. Die Indianer sollten der Freundschaft des weißen Mannes nicht trauen.
Auf dieser Stufe einer frech und witzig gemeinten BILD-Bewerbung ist, aber wem fällt es auf, der Wert „Wahrheit“ durch den Wert „Neuheit“ ausgetauscht worden. Wir als künftige BILD-Kunden bekommen nicht mehr gesagt, was wahr, aber unbequem für die Mächtigen wäre, vielmehr bekommen wir jetzt Neues geboten, das uns vor Unheil bewahren kann. Allerdings erst seit 1955. Und nur bis 1492.
Die Neuheiten, wie sie da waren, zeichneten sich dadurch aus, dass jedes Kind sie kannte. Wahr und richtig wiedergegeben waren sie nicht unbedingt, aber dem Allgemeinwissen entsprachen sie. Eva hat den Apfel gegeben. Der Meteorit killte die Dinos. Troja fiel durch eine Handvoll Soldaten, die in einem Holzpferd hinter die Mauern geschleust wurden. Fiktion. Kleine Geschichten. Mären.
BILD.
Und wir bleiben dran. Irgendwann muss diese Werbeagentur die Standards von Intelligenz und Perfidie der von ihr beworbenen Redaktion doch wieder einholen.
Anmerkung:
Der Text stammt in seinen wesentlichen Zügen aus dem Jahr 2008. Kein Wunder, dass Sie die geschilderten Mini-Dramen nicht vor Ihrem geistigen Auge erblicken. Aber schauen Sie ins (inzwischen) gratis Online-BILD, dort sehen sie täglich missgebildete oder missbrauchte Kinder und lesen, in welcher nicht deutschen Bananenrepublik (Moldawien, Weißrussland) welche lesbischschwulen Transgender wie diskriminiert wurden. (Den Part, als die Bild-Redakteure sich geoutet haben, muss ich übersprungen haben.) Seit Aberwochen werden immer dieselben Demoskopiewerte für die kommende Bundestagswahl farbig angezeigt, nämlich die CDU bei 35, die Grünen bei 19, die SPD bei 15,5, die Linken und FDP jeweils bei 6,5 und die AfD irgendwo dazwischen. Und täglich, obwohl das seit Aberwochen dieselben Werte sind, haben die Parteien irgendwie zu- oder abgenommen, offenbar eben um so viel, wie es war, damals, als es sich zum letzten Mal verändert hat. Dieses notiere ich hier, falls der Text in weiteren 12 Jahren tatsächlich noch einmal von jemand gelesen werden wird. Dann werden die Werte sehr viel anders aussehen. Aber die BILD wird es immer noch geben und sie wird Trump heißen.