Läuterung 020 : Handkes und Winklers Sommerstunden

Bild von Klaus Mattes
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Es ist Sommer in der Ile de France. Schwalben zirpen, Grillen kreisen, schmale Pappeln recken sich hinauf ins Blaue, wie von Monet gemalt. Linde lispelt die Luft im Garten des Dichters Peter Handke. Er trägt eine schmale Sonnenbrille im verknitterten Jungengesicht und einen fluffigen Schlapphut. Sein Gast, Professor Heinrich August Winkler aus Berlin, ist in einen mit kleinen hellbraun-beige-rotbraun karierten Karos gemusterten Sommeranzug gekleidet, die Hose ist mittelgrau. Seine preußische Redlichkeit scheint sogar noch etwas redlicher als die von Frank-Walter Steinmeier oder von, um den gewagten Vergleich nicht zu scheuen, Angela Merkel.

Die beiden Männer sehen einer dicken Hummel nach und halten hohe Gläser mit giftgrünem Minzsirup in ihren Händen, an denen sie ab und zu unter Entfesselung eines unschönen Gurgelns nippen. Durch naturbelassene echte Strohhalme hindurch.
Sie stellen die Gläser auf ein heftig kontrastierendes feuerwehrrotes, rundes Gartentischchen aus Blech und blicken einander fragend an. Peter Handke ist es gewesen, der das Mobiliar vor drei Wochen mit dieser Farbe nachgestrichen hatte, die heute so frisch wirkt, als würde man immer noch dran kleben bleiben.

„Ja, Slowenien aber“, singt Handke aus frei geöffnetem Mund.
„Natürlich. Das Pulverfass Balkan. Immer schon“, nickt Heinrich August Winkler verstandesinnig.

In luftiger Ferne ploppt kurz und trocken der Überschallknall. Jahre sind verflossen, seitdem droben noch die letzte Concorde flog. Offenbar könnte es nur noch die Force de Frappé de Menthe sein.

„Verehrter Herr Professor, wissen Sie, seinerzeit, als ich, die Tränen liefen mir das ganze Gesicht hinab, auf Belgrad zugegangen bin, mit meinen nackten Fußsohlen durch Schnee und Eis ...“
„Offen gesagt beneide ich Sie um derlei Erfahrungen. Ich komme aus meinem Institut nicht mehr hinaus. Schon in Freiburg ist das all die Jahre so gewesen. Die vollständige Breite der Quellenlage. Das Disparate jeglichen Materials, bevor man es wissenschaftlich erschlossen hat. Sie können sich das nicht vorstellen! Ursprünglich war das ein Witz, sich in die große Tradition der Mommsens, Treitschkes einzureihen, aber mit dem Umzug nach Berlin und mit dieser mediokren Kanzlerin fühlte ich mich der Aufgabe gewachsen und schließlich sogar vollends verpflichtet. Ich sage Ihnen nebenbei auch mal unverhohlen, dass der mir angenehmste Kanzler Helmut Schmidt war.“

„Die Tränen sind mir herunter gelaufen. Tränen. Ein gelungener Tag, noch ein gelungener Tag, obwohl mir einer schon geglückt gewesen ist, hätte es werden müssen. Ich hatte mein Glas Ribiselsaft getrunken, es auf die Wurlitzer gestellt und „Johnny, Remember Me“ gedrückt. Ich hatte mir die majestätische Leere des Mont Saint-Ventoux vor Seelen gestellt. Aber da! Serbien! Belgrad! All diese Religionskriege! Das unausweichliche Morden! Diese blödsinnige Einigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Ich konnte es nicht hinnehmen. Ich musste dieses Land erlösen. Ich weinte, ich lief durch den weißen Schnee. Ich ahnte schon, meine Heimkehr würde ein lange und letztlich ganz vergebliche sein.“

Leicht eiförmig und rot gequetscht verglomm die Sonne zwischen Gustave Monets Pappeln und Heuschobern. Den unsichtbaren Ozean, der dort noch sein musste, konnte man nicht ahnen. Nur tief gebücktes Korn rauschte trocken.

„Hoch eindrucksvoll. Ich selbst warte auf keinen Tag sehnsüchtiger als jenen, an dem ich den alten Fontane wieder in großer Gelassenheit studieren kann. Aber Sie haben tausendseitige Werke verfasst. In meinem Fall kommt Feinarbeit mit dem Anmerkungsapparat dann ja jeweils noch hinzu.“

Der Wind drückte einen Schwall von kuriosen Männerstimmen durch die rückwärtige Hecke. Im benachbarten Ort Eventail oblag die Altherrenmannschaft dem Fußballspiel. Noch immer stellte Torwart Ernst Bloch Berechnungen darüber an, welcher Anlaufwinkel für den Elfmeter zu welchem Eckeneinschlag im Tor führen würde. Wieder warf Bloch sich mit aller Kraft in die Ecke und griff ins Leere aus.

„Diesen Tag“, murmelte Handke kaum horbar, aber ganz klar, „ich muss ihn mir aufschreiben. Sonst geht er der Welt ja doch verloren.“
„Da haben Sie natürlich Recht“, stimmte ihm Professor Winkler artig zu.

In Wahrheit hatten sie vor drei Stunden aber schon eingesehen, dass sie sich nicht das Geringste zu sagen hatten. Nichts. Ein scheußlich phantasiearmer Deutscher und ein typisch von sich eingenommener Provinzmessias aus der Alpenrepublik. Der Lackel.
Die Wespen taten sich gütlich an den süßen Resten in ihren Gläsern.

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Kommentare

12. Dez 2020

Tolle Geschichte !!!
HG Olaf