Reuenthal g - Helmut und Timo

Bild von Klaus Mattes
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Als im April der Dauerregen aufhörte, fand Helmut es merkwürdig, dass der Lehrer nicht an seiner Seite auftauchte, auch keinen Ton hören ließ von sich. Aber dann, eines abends, sah er ihn hertrippeln, mit dem Jungen Timo an seiner Seite.

Der Junge trug einen dicken, rot und gelb gestreiften Winterpullover.

Helmut röhrte: „Ja Mensch, Peter! Da bist du wieder! Ich hab schon gemeint, du bist zu deinen Eltern zurückgezogen und hast anfangen müssen mit Schaffen.“
„Ach, ich bin in letzter Zeit weniger gekommen. Hab ich was verpasst?“

Zu dem Jungen sagte Helmut: „Und? Auch wieder da? ‘nen schönen Pullover hast du. Wo hast den her?“
„Der ist vom Peter.“
„Ach so! Vom Peter! Na schau her! Den hat er dir geschenkt?“
„Geliehen. Ich wohn grad beim Peter.“
„Was du nicht sagst! Du wohnst grad beim Peter! Soso! Hast ‘nen Dummen gefunden.“
„Geht’s dich was an?“

Es war da schon klar, die beiden kannten sich und mochten sich überhaupt nicht.

„Ich kenn den Peter, wie lang, Peter? Fünf Jahr? Der ist jeden Abend da. Der hat’s praktisch mit allem getrieben, was Beine hat. Da sieht man ihn einen Monat nicht, dann bist du mit ihm zusammen. Da wird man fragen dürfen.“
„‘nen Monat ist es nicht“, sagte der Lehrer.
„So, so“, sagte Helmut, „da bist du in ‘ner Wohnung mit ‘nem Bett und bekommst zu essen. Da geht’s dir gut oder? Liest auch schon Bücher über Kunst?“
Der Junge schwieg.

Helmut lachte.
„Die Welt! Man sollt’s nicht glauben. Die Schwulen! Was sich da alles so zusammentut!“
„Helmut, alles in Ordnung?“, fragte der Mann ärgerlich.

„Wie heißt du?“, fragte Helmut.
Der Junge sagte nichts.
„Ich hab dich was gefragt! Bist du nicht der Tobias, der Stricher Tobias?“
„Ich heiß Timo“, schnappte Timo.

„Timo. Soso. Timo, ja. Timo. Timo und Peter. Timo und Peter. Das ist gut. Reicht das Geld vom Peter für euch zwei Täubchen?“
Keiner sagte was.

Reinhard und Klemens kamen gewackelt.
Reinhard, der Ältere, Mitte fünfzig, war recht bekannt in der Stadt, als Chefkoch von einem Kaufhausrestaurant. Klemens, ein verquollener Phlegmatiker, Mitte dreißig, war der von den zwei, mit dem sie mehr Umgang gehabt hatten. Von einem Beruf war bei Klemens nie was bekannt gewesen. Offiziell war er ohne Arbeit. Auch als Erwachsener hatte er eine lange Reihe von Jahren bei den Eltern gelebt, war dazu übergegangen, sich von älteren Männern aushalten zu lassen. Angeblich hatte er Unterweltgeschäfte am Laufen. Früher habe er seine Waffe in den Schließfächern geparkt, als es am Busbahnhof diese noch gegeben habe. Eines stimmte aber: Klemens rauchte viel Shit. Er machte es nachts bei ihnen im Park.

„Oh hallo, liebe Leut! Wie geht’s, wie steht’s? Gibt’s harte Eier? Oh hallo, hallo, Timo! Machst dich rar in letzter Zeit.“
Sie klatschten die Handflächen gegeneinander mit abstehenden Daumen. Weder Peter, noch Helmut, noch Reinhard sagten was dazu.

„Hallo Reinhard, hallo Klemens“, sagte der Junge. „Ich wohn jetzt beim Peter.“
„Na, da hat’s der Peter gut“, schmunzelte Klemens und knuffte ihn an der Brust. „Du, die Reiselfingerin hat Sehnsucht nach dir, soll ich dir ausrichten.“
„Der Arsch, der kann mich!“
„Du, das geht mich nichts an, was ihr habt. Er hat mir gsagt, ich soll’s sagen, wenn ich dich wo seh. Also sag ich’s so, wie er’s mir gesagt hat. Ansonsten wasch ich die Händ in Unschuld.“
„Sag dem Arschloch, er soll mich in Ruh lassen! Wenn ich ihn seh, verpass ich ihm eine.“

„Du, der ist en armer Typ. Sieh des mal so! Der ist krank und allein und keiner kümmert sich um den. Der ist auf null. Das trifft den hart, wenn er dich jetzt auch noch verliert. Das muss dir klar sein.“
„Er ist ein Arschloch. Soll er sich aufhängen!“

„Wer issen der? Von wem redet ihr?“, hakte Helmut ein.
„Ach, ein Bekannter. Kennst du nicht“, nuschelte Klemens.
„Ich kenn die meisten.“

„Klemens!“, blaffte Reinhard.

„Also, man sieht sich. Wir müssen“, sagte Klemens. „Timo, gehst noch ein Stück mit?“
„Ja“, knurrte Timo. „Bis gleich.“
Sie zottelten weg.

Helmut kicherte.
„Ich fass es nicht! Den da lässt du schlafen bei dir! Du siehst, mit was für Gesocks er sich umtut. Ist er wenigstens gut im Bett?“
„Helmut, es ist nicht so, wie du meinst. Wir haben nichts mitnander.“
„Aber er schläft bei dir.“

„Der war obdachlos. Ich wollt ihn aufnehmen für eine Nacht, na ja, ich kann ihn schlecht rausschmeißen, wenn er kein Geld kriegt. Es muss was vom Arbeitsamt kommen.“

„Wo schläft er in deiner Wohnung?“
„Na, in meinem Bett! Ich hab doch nur eins.“
„Seit einem Monat?“
„Das ist kein Monat.“
„Ihr habt nichts!“
„Nein, er will nicht. Ich glaub, er ist nicht wirklich schwul.“
„Wenn er’s fürs Geld kann, kann er’s bei dir auch.“
„Hast du mit ihm schon was gehabt?“
„Spinnst du! Den fass ich mit der Beißzang nicht an! Weißt du, mit wem ich’s machen tät, von allen, die hier rumlaufen? Mit dem Roman. Der ist was anders. Der da ist doch ein Gangster.“

„Er wirkt so. Wenn man ihn besser kennt, ist er nicht schlimm.“
„Den musst du anschaun, gleich weißt du, dass es die Schlägersorte ist.“
„Das sind die dunklen Augen. Dass sie noch geschlitzt sind.“
„Gell! Der sieht aus wie’n Schlitzaug.“
„Aber er sieht gut aus damit.“

„Weißt du, wer gut aussieht? Der Roman! Aus dem Roman könnt ich was machen. Deiner ist ein Verbrecher, der wird ein Verbrecher bleiben. Was macht er so?“
„Wie meinst du? Sexuell?“
„Irgendwas geht bei euch, wenn du ihn jetzt schon Wochen im Nest hast.“
„Nein, nichts. Er sagt, er ist müd. Man darf ihn nicht küssen. Er will eben keinen Sex. Er sagt, er ist bisexuell, aber ...“
„Weißt du was? Er nützt dich aus! Da hat einer gemerkt, dass du schwach bist. Der hat es einkalkuliert, dass du’s nicht übers Herz bringst, ihn rauszuschmeißen. Aber du gefällst ihm nicht. Sonst wär da was am Laufen. So einen musst du zwingen.“
„Na ja, vielleicht wird’s noch. Bissel anfassen lässt er sich.“

„Gell, das lockt einen, wenn sie abweisend sind! Ist mir in der Tschechei aufgefallen. Wenn du siehst, sie wollen nicht, aber du hast es in der Hand, dass sie müssen, das ist geil.“
„Vieleicht bei dir.“
„Doch, doch, das ist schon geil. Beim Benni war’s auch so. Dieser Drogi, du weißt. Da hast du nie gedurft. Eines Nachts sag ich, wir zwei machen heut, was ich machen will, oder du fliegst. Es war der beste Sex von einer Ewigkeit. Man muss brutal sein können. Die Schwachen sehnen sich ja danach.“

Der Mann schwieg.

„Entweder ficken oder der fliegt, schaff da mal Klarheit!“
„Ich glaub nicht, dass er so leicht wieder geht.“
„Dann rufst die Polizei. Es ist Hausfriedensbruch!“

„Mal sehn. Hast du den Alex gesehn?“
„Nö, der muss auch einen haben. Aber sie kommen ja alle wieder. Am besten schmeißt du ihn raus. Das ist ein Parasit, der plündert dich aus, der Gangster.“
„Er hat gesagt, er zahlt’s zurück.“
„Sicher, sicher.“

„Es ist ja auch mal schön, wenn man jemand hat.“
„Aber was bringt so einer? Der bringt dir nichts! Der kommt vom Stamme Nimm! Wenn’s der Roman wär ...“
„Der Roman hat aber nicht grad viel gemacht.“
„Weil der unerfahren und sehr scheu war. Wahrscheinlich ist er nicht durch und durch schwul. Er macht das nur, weil er sich nicht traut, eine anzusprechen.“
„Wenn der Roman nicht schwul ist, kann’s nichts werden mit dem.“
„Du, tut mir Leid, da hab ich andre Erfahrungen. Wenn man ihn nur ein einziges Mal zu fassen kriegt! Der reißt ständig aus. So einen musst du an dich gewöhnen. Dann werden die ganz anders. Ich hab’s dir von Prag erzählt.“

„Der Roman ist zwei ganze Jahre nicht hier gewesen. Der hat einen Führerschein und macht es mit seinen Gleichaltrigen in Freindersheim.“
„Und man sieht sie alle wieder. Hast du keine Angst?“
„Angst?“
„Also, wenn er neben mir liegen tät, wenn ich am Schlafen wär, ich weiß nicht ... Man merkt doch, dass er gewalttätig ist. Hat er eine Waffe, Messer, Dolch?“
„Der Timo ist nicht gewalttätig. Das ist sein Verhalten. Wenn man ihn kennt, wird der butterweich.“
„Aber ein Messer hat er schon?“
„Er hat kein Messer.“
„Das weißt du?“

„Du, nur das, was er am Leib getragen hat, hat er mitgebracht. Ich hab ja alles gewaschen. Da war kein Messer.“
„Dann nimmt er’s halt aus der Küche.“
„Aber wieso? Ich hab nichts, was er zu Geld machen kann.“

„So ein Typ ist ja nicht normal, da darfst du nicht denken, dass der normal denkt. Irgendwann rastet so einer aus und sticht auf dich ein. Er weiß nicht mal selbst, wieso er’s tut, der Rappel, die Drogen, irgendwas. Schmeiß ihn raus, das rat ich dir als dein Freund.“
„Er kriegt sein Geld, dann sucht er ein eigenes Zimmer.“

„Dass du solche Geschichten hast! Mit dir geht’s nicht gut aus. Das sag ich dir. Du musst vorsichtiger sein!“

„Fährst du wieder nach Prag?“
„Du wirst lachen. Der Koffer ist gepackt, im Kofferraum. Ich fahr das drei Tag spazieren. Ich bin zu lang hier gehockt. Weißt du, ich nehm ab Nürnberg die Bahn. Dann ist am Auto nichts. Willst du nicht wieder mitkommen? Wir können in der nächsten halben Stunde starten. Dann musst du mit dem Schani kein Wort disputieren. Ich rauch noch eine.“
„Ich hab nur gefragt.“

„Wie lang warst du nicht mit? Jahre sind es. Komm mit! Du musst raus aus der Scheiße.“
„Jetzt nicht. Timo ist bei mir. Ich lass ihn nicht in der Wohnung allein.“
„Ich sag’s dir: Lass den sausen! Oder meinetwegen: Ich nehm ihn ja mit für dich. Er hat wohl einen Personalausweis? Mitten in der Stadt, separater Eingang, Spitze du! Wir kochen, die Küche ist Spitze, Kühlschrank. Zwei Schlafzimmer. Der Gauner schläft bei dir. Das sind riesige Betten. Bloß müsst ihr durch mein Zimmer, das ist ein wenig störend.“

„Wie viel kostet das denn?“
„Du, das ist billig! Wir teilen es uns, du zahlst vierzig Mark am Tag für euch zwei, Essen schon drin, Stricher kommen zusätzlich, du weißt aber, die sind günstig.“
„Wenig ist das nicht.“
„Was ist los? Du weißt, wie geil die Tschechen sind. Liebst du deinen Timo so?“
„Nee, nee! Prag ist nur nichts für mich. Es war schon mal schön, aber nicht auf Dauer.“

„Wieso? Ich überleg, ob ich ein Haus kauf. Am Stadtrand stehn die leer. Da kannst du machen, wie du lustig bist. Uns zwei hält in diesem Deutschland nichts mehr. So wie der Hamburger dort. Du weißt noch? Alles bricht zusammen in diesem Staat. Uns braucht keiner mehr, wenn wir alt werden.“

„Kenn ich. Damals war’s immer Thailand. Du bist immer noch da.“
„Thailand ist was andres. Da ist das Klima fremd. Die Mentalität von der Bevölkerung. In Prag ist alles deutsch, bloß die Tschechen haben sich da dann drauf gehockt. Die Tschechen, muss man zugeben, sind aber doch nicht so abgewichst wie das Pack, was du bei uns heut hast.“

„Das wird dann der Timo sein.“

„Hör zu! Komm mit! Er kann ja auch mit. Er hat seinen Ausweis?“
„Bei mir daheim. Ich hab kein Geld da.“
„Ist egal, fahrn wir zu dir, du packst zusammen, Scheckkarte und ab!“
„Ich weiß nicht mal, ob es weiter zu überziehen geht.“
„Tu nicht so!“

Timo war zurück und stellte sich neben die Bank.

„Timo, warst du schon in Prag?“
„Wie?“
„Prag, in der Tschechei.“
„Nein.“
„Willst du hin?“
„Wieso?“

„Da gibt’s schöne Jungs. Frischeres Fleisch als der Herr Vermieter.“
„Und?“
„Fünfzehnjährige, knackige Ärschle, kannst alles kriegen. Da kommt dein Appetit auf Sex zurück.“
„Kinderficker.“
„Wie?“
Sie hörten sich nach Schlägen an, machten aber nichts.

„Du musst aufpassen, was du sagst. Ich muss mir das nicht gefallen lassen von so einem. Wenn ich die Wahl zwischen einem Fünfzehnjährigen und einem Parkstricher hab, weiß ich, was ich nehm.“

„Peter, ich geh jetzt. Gib den Schlüssel!“
„Helmut, ich denk, das war’s für heut. Viel Spaß dann in Prag!“
„Aber denk dran! Was ich gesagt hab. Ich hab’s dir vorhergesagt.“
„Man sieht sich.“

„Du warst normal bis um drei da.“
„Es wird langweilig, wenn man es kennt und es immer wieder dasselbe ist.“
„Ach, du musst horchen auf einen.“

„Tschüss. Ich bin jetzt auch wieder öfter da.“
„Am Samstag zu den Lottozahlen bin ich wieder da.“

Drüben am Eck vom Gebüsch wurde ein Schemen weggeschluckt. Wie immer, wenn man sich an einen gebunden hatte oder gerade gehen wollte, wirkte aus der Ferne das Ungesehene höchst anziehend.

Timo sagte: „Das ist ein dummes Arschloch. Wenn du nicht dabei gewesen wärst, er hat Glück gehabt. Die Sorte kenn ich, eins auf die Glocke, damit sie gleich kapiern, wer Meister ist.“
„Dass der Helmut ein Arschloch ist, weiß jeder. Aber ich lebe in der Stadt und brauche den Park. Es bringt mir nichts, wenn alle mich hassen.“