Reuenthal r - Liebeskummer

Bild von Klaus Mattes
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Und in derselben Nacht, noch mal zwei Stunden später, schlug seine Türglocke an.

Das Haus war am Zittern. Diese Hand mit ihren hartnäckig eingepressten Fingerkuppen, diesen geduldigen Pausen, dem Nachfassen, kannte Peter. Der Mann warf sich unters Kissen. Er war ein übler Charakter, weil er den Jungen auf so eine Tour einfach abservierte. Timo mochte ihn jetzt dringend brauchen, voll in seiner neusten Scheiße sitzen und niemand bot ihm mehr die Hand. Doch Peter wusste: Auf diese Art würde das funktionieren. Der Junge hatte kein Stehvermögen für stunden- oder tagelanges Hinnehmen von Absagen. Er mochte Peters Name in die Nacht hinausplärren. Aber auch der Junge wusste jetzt schon, hier im Haus würde später nie mehr einer so tun, als hätte er ihn gehört. Jedoch andernfalls, was immer sie in dieser Wohnung jetzt debattierten, erklärten oder stritten, sobald er Timo hinauf ließ, im Endergebnis würde der, bis es Tag wurde, nicht wieder gehen. Und eben dieses galt es zu unterbinden; das war ihm wichtig.

Wirklich begnügte sich Timo mit einer langen Viertelstunde Klingeln und ging dann ohne jeden Schrei aus des Mannes Leben hinaus. So beiläufig wie er im nassen April eingestiegen war, fiel er im Sommer in die Nacht hinaus.

Endgültig abgeschlossen war es damit natürlich noch nicht.
Ab und an klingelte das Telefon. Er ließ es. Wer immer das war, dankenswerterweise hielt der Mensch zwischen ungefähr Mitternacht und zwei Uhr nachmittags Ruhe.

Irgendwann musste man zu normalem Verhalten zurückfinden. Er nahm den Hörer dann wieder ab. Das war nur Helmut, der ihn allerdings, wenn der Mann sich richtig erinnerte, nie vorher angerufen hatte. Sie hatten alle beide noch nie die Wohnung des anderen betreten. Sie waren Parkfreunde. Oder sie verabredeten sich manchmal ins Batsch oder auch in die Fabrik nach Freindersheim.

„Peter? Ja, ähm, da spricht der Helmut. Stör ich dich?“
„Ach, Helmut, nee, du störst mich nicht.“
„Was machst denn?“
„Ich, ich war ... grad beim Abwasch.“

„So, du, ja. Du, ich wollt fragen, ob was ist. Man sieht dich nicht mehr.“
„Nee, alles im Lot. Hab nicht so die Lust. Ist immer dasselbe, weißt schon.“
„Ist der Verbrecher noch da? Hast du ihn g’habt?“
„Na ja, in der Beziehung tut sich auch nicht viel. Du hast ihn wohl im Park g’sehn.“
„Nein, der ist nicht mehr da. Ist er noch bei dir? Oder ist er dir abgehau’n?“

„Sagen wir mal so, ich hab ihm klar machen müssen, dass er nicht mehr willkommen ist.“
„Jahaa! Siehst du! Was hat er denn mitgehn heißen?“
„Also komm! So schlimm war’s nicht. Das Ding hat’s einfach nicht mehr bracht. Schon, dass der nicht wirklich schwul ist, sondern nur so den Bisexuellen markiert, damit ihn wer nimmt. Da geht’s schon los.“

„Und warum kommst du nicht mehr? Hast du Liebeskummer?“
„Aber woher! Ich bin durch das Ding jetzt irgendwie draußen und ich möcht das so noch halten. Früher ins Bett, früher aufsteh’n. Man hat doch ewig gewartet und immer gewusst, es kommt gar nix.“

„Au nein, sag du des nicht! Da ist in letzter Zeit so ein junger Blonder, siebzehn. Du, Spitze, sag ich dir.“

„Der Alfred war aber schon dran, gell?“
„Haha, der Alfred du, der hat nicht schlecht gstaunt. Du weißt, man sagt nur ein Wort zu so einem, da steht der Alfred daneben und lässt partout nicht mehr locker. Entweder der Siebzehnjährige haut ab oder er geht mit zum Alfred. Jetz, gib Acht, der Alfred rennt zum Jungen hin, fängt so sein nettes Gespräch an. Der redet auch die ganze Zeit. Dann klopft er ihm auf die Schulter, tschüss, geht einfach so weg vom Alfred und redet selber einen andern an. Der Alfred hinterher und der Junge sagt ihm, du, wir wollen grad unter uns bleiben. Und, was ist denn jetz mit heute Nacht?“

„Ich schau dann mal. Ausschließen tu ich nichts.“
„Ich bin ab zehn wieder drin.“
„Weiß ich. Oder sonst halt mal. Ich geh euch schon nicht verlorn.“
„Genau. Na dann. Also du.“

„Du Helmut?“
„Mhm?“
„Der Tobi? War der mal oben?“
„Oh du, den Tobi sieht man schon ewig nicht. Johannes hat ihn paar Mal gfahrn. Johannes sagt, er hat arg gemüffelt.“

Es war dann Peter, der Tobi, den Bauwagenbewohner, noch ein einziges Mal sah, bevor auch dieser für mehrere Jahre aus seinem Leben verschwand.

Es war noch in den Wochen mit kurzen Nächten, vom Freitag auf Samstag. Erst war er mit Helmut auf Achse gewesen, dann war der Pfleger Alfred aufgetaucht, dann wieder nur der Helmut. Das war bis vier in der Frühe gegangen, kurz vor Hellwerden. Man wusste, dass jetzt keiner mehr kommen konnte.

Gefrustet war er bis zum Bahnhof gelaufen, der um die Zeit wieder aufgesperrt wurde. Ihm war eine Vision erschienen: Auf einer Bank würde ein Betrunkener liegen, übrig von der Freitagnacht. Mit ihm würde er ins Gespräch kommen und etwas herumfingern und fragen, ob sie nicht einen saufen gehen sollten.

Die Halle war schon offen. Der Bäcker machte sich auch schon fertig. Auf der Treppe zur Musikkneipe, welche es im ersten Obergeschoss vom Reuenthaler Hauptbahnhof damals gab, hockte der Tobi. Vor Erschöpfung konnte der kaum gucken.

„Hallo du, noch unterwegs?“
Tobi schien eine Weile überlegen zu müssen, bis ihm klar wurde, was er gefragt worden war.
„Hallo ja. Hast ‘ne Zigo?“

Sie saßen auf den Stufen und rauchten. Tobi schien seit mehreren Tagen nicht aus seinen Klamotten raus zu sein. Seine Finger waren schwarz, als hätte er im Moos nach was gegraben. Sein immer schon schmieriges Haar schien kurz davor, von ihm runterzutropfen.

„Was machst du? Bist auf der Suche?“
„Ich bin so k.o., Mann! Batsch, beschissen. Reuenthal, das schafft mich noch, das sag ich dir.“
„Was macht der Salvatore?“
„Ach ... er ist mit dem Ralf zusammen.“

„Der Brillenschlange?“
„Nein, der von der Post.“
„Ein Ralf von der Post? Du meinst bestimmt den Jürgen.“
„Jürgen nicht, der ist doch mit dem Thomas zusammen. Ralf halt.“
„Wie alt etwa?“
„Weiß ich! Neunzehn, so was.“

Eigentlich hätte in diesem Zusammenhang der Tobi auch was über Timo sagen können.

„Und du sitzt so da und wartest auf den Zug oder Bus?“
„Hm-ja.“
„Das geht am Samstagmorgen schon auch lang.“
„Um sieben fährt der erste.“

„Das ist ja noch lang.“
„Hier gibt’s schon Unterhaltung.“
„Unterhaltung, gibt’s hier?“

Die Bahnhofshalle sah ordentlich, sauber und langweilig aus.
„Da kommt immer einer.“

Und als wäre das ein Stichwort gewesen, pflanzte ein mopsiger Enddreißiger sich auf, welliges Haar, geduckte Spießerfresse. Er suchte Feuer und sprach merkbar nur den fast im Mülleimer liegenden Tobi darauf an.
„War ja ‘ne geile Nacht!“, schmunzelte er.

Tobi grinste. Tobi schien frisch zu werden, weil einer was wollte. Konnte wohl auch sein, dass die beiden sich kannten. Der Schnarchsack hatte sie allerdings gesiezt. Er sah so gar nicht schwul aus. Aber irgendwas hatte ihn zum Tobi hingetrieben.

Peter hievte sich auf und ging heim. Ins Bett. Immerhin, es gab Leute, die hatten kein eigenes Bett. Darüber konnte man lange nachdenken. Es half einem kein Stück.