Hock bei der Startrampe H - Kasse oder nicht

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

Die Tür zum Kursraum ist aus Glas und fast durchsichtig, wenn auch nicht ganz, weil Milchglas. Frau Henkenhaf kommt rein, miesepetrig sagt sie: „Heute habe mal ich mich verspätet.“

Wie stets bleibt die Tür längere Zeit offen eingerastet, bis alle Teilnehmer, von denen manche mittlerweile ihre erwartbaren Minuten später eintreffen, mehr ist noch nicht eingerissen, Platz im Kreis bezogen haben. Wie schon mehrmals lauert Frau Henkenhaf, verschiedene Blätter auf der Hand, verschiedenen verspäteten Teilnehmer auf. So drückt sie wortlos, ganz ernsten Blicks, Frau Brückner einen Ausdruck in die Hand.

Frau Brückner hat alles mal gemacht in ihrem ungefähr sechzigjährigen Leben. Mit einem seinerzeitigen Lebensgefährten hatte sie heiße Seelen verkauft, in Oberschwaben von mobilen Ständen. Das kennt man hier noch nicht, könnte man doch mal machen. Seelen, also diese Teigstangen mit Salz und Kümmel, die kennt man, aber dass sie heiß gemacht werden, das kennt man nur in Oberschwaben.

Frau Henkenhaf hat für Frau Brückner die Ausschreibung einer Serie von Stellen als Kassiererin in Supermarkt-Filialen rausgelassen. Das betreut eine Zeitarbeit-Firma mit einem ausländischen Namen. „Haha“, lacht Frau Henkenhaf siegessicher, „das ist Zetto, das weiß ich jetzt schon, dass hinter allen diesen Angeboten Zetto steckt, die brauchen Leute.“
Frau Henkenhaf, deren Humor nicht nachvollziehbar ist, jodelt dieses Wort „Leute“ und schüttet sich aus vor Lachen.

Frau Brückner, die ist halbtags. Bei Zetto wollen die vorerst nur Teilzeit haben, aber dort könne man später auch noch voll übernommen werden.

Frau Wergraff, wegen ihrem verschleppten, schlimmen grippalen Infekt kommt sie vom Arzt, sie ist über eine Stunde zu spät, hustet aus tiefer Raucherinnenbrust, bekommt das Angebot gezeigt und befindet, das wäre für sie absolut das Richtige. War es nicht sie, die vor der schweren Erkrankung, vor sieben Jahren etwa, bei Werthof die Kasse gemanagt hatte?

Mitten aus dem Klassenzimmer mit ihrem Handy in der Hand wählt Frau Henkenhaf die ausländische Zeitarbeitsfirma an und alle können zuhören, wie sie die Vorstellungstermine festmacht. In einer Stunde, das klingt knapp, wenn man bedenkt, dass die Startrampe nicht wirklich in Reuenthal ist, vielmehr weit draußen. Ob das mit den Bussen und dem Umsteigen geht? Aber es geht, denn Frau Brückner fährt ihr eigenes Auto und sie nimmt Frau Wergraff mit. Geht also nicht lange.

Schon sind sie wieder da. Es hat geklappt für beide! Montag fangen sie an. Aber nicht bei Zetto, sondern bei Laufbrand. Jeder kennt das weiße L auf der blauen Tüte. Für irgendwas um die zehn Euro die Stunde.

Herr Weise, ein zeitlos jungenhaftes Dickerchen mit einem glatten Kindergesicht, ein Koch aus Mecklenburg-Vorpommern, der redet sonst wie ein MG und hält sich jetzt merkwürdig zurück. Gestern hatte er abgelästert über genau die Laufbrand-Märkte und was die einen tun lassen an den Kassen. Man hat ihn in so viele Maßnahmen verschoben, seit er seinen Koch nicht mehr ausüben kann, wegen der Durchblutung, wegen des Diabetes, wegen Operationen im Auge. Also jedenfalls hatten sie ihn zum Laufbrand abgeordnet ins Praktikum. Dort sei er die ganze Zeit, vier Wochen am Stück immer in der Kiste gehockt und habe Zeug über den Scanner gezogen. Das nennen sei bei Laufbrand „abwechslungsreich“. Überhaupt sei das Klima extrem schlecht, unter den Kollegen übelst dort.

Für ihn, Herrn Weise, ehemaliger Koch, sehe die Rechnung mittlerweile so aus: Wenn er einen Halbtagsjob nehme, so für 10 Euro die Stunde, komme netto kaum was über Hartz rum. Und wenn man dann einen stupiden Job bekommt wie bei Laufbrand.

In der folgenden Woche hat Frau Henkenhaf für die Damen eine betrübliche Mitteilung. Soeben hat diese Arbeitnehmerüberlassung, die mit dem ausländischen Namen, angerufen, für Laufbrand-Märkte kämen überhaupt nur Kräfte in Vollzeit in Frage. Leider geht es bei diesen zwei Frauen nun nicht, die eine wegen ihrer Tochter, Grundschule, die der anderen ist zwar schon über vierzig ... jedenfalls geht Vollzeit bei Frau Brückner auch nicht.

Wir machen Mittag und, weil sie immer nur die Hälfte vom Tag teilnehmen, sind die Frauen nicht mehr hier, als Herr Weise bei Frau Henkenhaf wegen der Laufbrand-Sache anklopft. Vollzeit, das sei das, was er brauche.

Wir stehen in der Nachmittagspause. Die Wolken reißen auf, Sonnenschein bricht durch bei der Startrampe. Herr Weise kommt die Treppe herunter und ruft: „Also tschüss, ich bin jetzt vermittelt.“
„Viel Spaß an der Kasse und mit dem Laufbrand-Betriebsklima und mit den zehn Euro“, ätzen wir.
„Ach, wisst ihr“, sagt Herr Weise nachdenklich, „das ist mir jetzt schon alles egal. Wenn ich aus all dem hier nur mal rauskomme.“

Als Frau Henkenhaf in der nächsten Woche die Anwesenden abstreicht, hören wir sie murmeln: „Herr Weise, der kommt dann etwas später.“
Dann lauter, ziemlich dramatisch: „In dieser Sache werde ich was zu sagen haben.“

Wieso denn der Weise? Herr Weise ist raus, der kommt nicht wieder. Was übrigens stimmt, denn an diesem Tag kommt Herr Weise wirklich nicht mehr vorbei und Frau Henkenhaf sagt ihre angekündigten Wort dann auch nicht. Herr Weise ist zu Haus und seelisch zerrüttet. Das mit Laufbrand hat sich zerschlagen.

Nämlich hatte die Zeitarbeitsfirma angerufen und sich entschuldigt, ein Fehler wäre passiert. Für Laufbrand suchten sie nämlich doch nur Teilzeitkräfte. Davon kann Herr Weise nicht über seine Runden kommen. Bei Frau Wergraff, welche heute fehlt, wegen ihrer kranken Tochter, haben sie auch noch angerufen und sie noch mal gefragt. Im Moment ist Frau Wergraff da völlig überfordert gewesen und hat die Unterstützung von Frau Henkenhaf gebraucht. Man werde sich bei der Startrampe, sagt Frau Henkenhaf - und das sind wohl die versprochenen dramatischen Worte, nicht mehr herumschieben lassen von diesem Unternehmen. Sie werde das Nötige in die Wege leiten, damit die Kollegen sich entsprechend verhielten.

Heute, sagt Frau Henkenhaf, am nächsten Morgen, wird sie Herrn Weise seine Laufbrand-Geschichte genau berichten lassen. Allerdings sagt Herr Weise vorerst telefonisch ab. Sein Blutdruck spiele verrückt.

Und am Nachmittag hören wir schließlich, seine Mutter wäre jetzt bei ihm und helfe ihm. Morgen hat er Geburtstag.