Hallo Thomas,
> Anschließend in Glastonbury.
Kenne mich nicht aus mit Excalibur- und Guinnevere-Zeug. Platzierte es auf meiner geistigen Landkarte mehr nördlich, Schottland zu. Glastonbury ist aber bei Bristol. Über diesen Berg gibt es einen netten Song von den Waterboys. Britische Band der Achtziger, mehr Rock als Wave, die den verdienten Durchbruch nie geschafft hat.
> Weißt du was über Teheran?
Nüscht. Dein nächstes Reiseziel?
Aus Kiarostami-Filmen sind Bilder erinnerlich, wo es am Stadtrand wüstenartig ausschaut, in besseren Wohnvierteln üppig grün. Wie das geografisch zusammengeht, war nicht klar. Iran ist ein Vielvölkerstaat. Ich stellte mir ‘ne Art haarig schwarzer Araber vor, bis ich im Heiligbrunner Filmclub auf Tohami traf, der rothaarig ist und aussieht wie ein Kelte. Scheint ein abwechslungsreiches Land.
> Dein Bruder hatte besseren Zugang zur Literatur.
Rückblickend wundert mich, dass nicht nur ich, der mit Menschen stets wenig Umgang hatte, sondern auch mein Bruder, der mehrere Freunde hatte, seinen Lektüregeschmack unabhängig von der persönlichen Umgebung ausbildete. King und Bradley sind Sachen, die Gleichaltrige einem zum Lesen geben. Wir haben eher auf Einflüsterungen der Medien gehört. Ich las die Rockzeitschrift „Sounds“. Mein Bruder entdeckte die Robert-Gernhardt-Bücher bei Zweitausendeins, welches es damals noch nicht mal in Freiburg gegeben hat. Frage mich jetzt also, wie das kam. Sah im Zweitausendeins-Merkheft, dass sie zum 65. Geburtstag, wie alt wir werden, seine spaßigen Bücher neu aufgelegt haben: „Besternte Ernte“, „Die Blusen des Böhmen“ und ... (Drittes fällt mir nicht ein). Die sind nett, das macht Spaß. Das ist der Nonsens-Dichter, der Parodist, Humorist, noch nicht der Literaturski, als den du ihn eher kennen wirst.
> Macht die Bildchen nicht seine Frau?
Gernhardt hat eine neue. Die Almut starb vor Jahren, an Krebs, glaube ich. Sie hat Kinderbücher bei Suhrkamps herausgebracht, zu denen sie bunte Gemälde machte, die von Magritte was hatten.
Das breitere Publikum kannte Gernhardt lange nur als den Zeichner von komischen Bildchen, unter denen auch schon mal paar lustige Zeilen Text waren, sie waren dann auch von ihm. Er hatte seine Kolumne im ZEITmagazin. In einem seiner schriftsteller-selbstreflexiven Bücher („Ich, ich, ich“, „Glück, Glanz, Ruhm“, „Wege zum Ruhm“) klagt er, wie verwundert die Literaten waren, wenn sie ihn bei der Buchmesse trafen.
Im Grunde ist Robert Gernhardt, wie seine späten Gedichte und Innenstillleben zeigen, ein rückwärtsgewandter Künstler. Er malt nie abstrakt, macht nicht Konzeptkunst, er dichtet in ordentlichen Versen, Reimen und Metaphern, die jeder versteht. Wenn man seine Essays liest, kommt durch, dass Brecht ein schlechterer Lyriker war als Heine - und nach ihm, nach Brecht, überhaupt kein guter mehr kam - außer Robert Gernhardt. Dass das Schwindelhafte zugenommen hätte, keiner mehr wie Velazquez oder Vermeer malen könne. Seine Ansichten muss man nicht teilen, er trägt sie einem unterhaltsam vor.
Seine Siebziger-Zeichnungen waren noch mit der Feder. Die hatten was Hingeworfenes und waren doch perfekt. Ohne Zweifel in der Nachfolge von Wilhelm Busch, über den er auch geschrieben hat. Dazu Reime in seiner Handschrift. Er malte Herrn Hefel, ein Männchen mit Knollennase und Hut (ach, wenn Ralf König so zeichnen könnte), welches Gläschen austrank. Manchmal zusammen mit Tieren wie Bären, Seelöwen, Vögel. Gott mit Rauschebart kam vorbei am Tresen. Später zeichnete er eine Weile lang fast nichts mehr, dann mit Buntstiften. Ab da ungefähr sieht es oft so aus, als wolle der Karikaturist jetzt Kunst machen. Geh bei Zweitausendeins vorbei und blättere seine drei Frühwerke an! Schön sind die langweiligen Urlaubspostkarten, zu denen er was dichtete und drüberzeichnete.
> Sie harren der Rückgabe.
Im Januar war Mehmet bei mir und entlieh das „Vulcano“ mit meiner Prag-Geschichte. Er hatte die Beziehung begonnen mit dem Lehrer Klaus in Karlsruhe. Dem wollte er sie zum Lesen bringen. Angeblich war der Lehrer Klaus vom GOC Wandern weggeblieben wegen meinem Text. Außerdem kommt im Text Kurti vor, Mehmets verflossene Liebe.
Bei der Gelegenheit entdeckt Mehmet Filmmusik-CDs, die er sich bei Klaus anhören will. Den Soundtrack zu Coppolas „Dracula“ und noch eine. Ich schärfte ein, dass alles, vor allem das „Vulcano“, zurückzugeben wäre. „Die CDs sind nicht lebenswichtig.“ Seither sind wir uns fünf Mal begegnet. Zuerst unterdrückte ich den Impuls, ihn ans Entliehene zu erinnern, um nicht kleinlich zu wirken. Beim zweiten Mal tat ich’s doch noch. Beim dritten Mal überreichte er mir „Vulcano“ (in einer Tüte vom Klaus, die zu einem Club gegen Kindesmissbrauch gehörte). Mehmet sagte, Klaus finde meinen Text nach wie vor nicht richtig. Und die CDs? „Ach.“ Sie würden noch folgen. Beim vierten Mal erwähnte ich die CDs nicht. Beim fünften Mal erwähnte ich sie. Mehmet: „CDs? Welche CDs? Ich hab mir von dir keine CDs ausgeliehen.“ Er würde dann also noch mal nachschauenn. Dass Mehmet unzuverlässig ist, wusste ich allerdings vorher schon.
> „Am kalten Erze knirschend“
Toll. Kann ich nichts draufsetzen. Kaufte die Vers-Odyssee. Las und blieb immer stecken, las, ohne aufzunehmen, was ich da las. Neulich fiel mir das Buch beim Aufräumen in die Hand. Buchzeichen steckte, ich wunderte mich, wie weit ich gekommen war. Konnte mich an nichts mehr erinnern.
> Die Trissenaar in Rainer-Werner-Filmen?
Blick ins Archiv. Erst hatte Fassbinder Münchner Kumpane in Schwabing. Kurt Raab, später an Aids gestorben, Harry Baer, hübscher Bub damals, später ein Fassbinder-Biograf, als Schauspieler aber doch eher abgemeldet, Irm Herrmann, die ewig Vertrocknete, Hanna Schygulla, das Herzchen, RWF selber, fies blickend, ungepflegt, unter dem Namen Franz Walsch auftretend, noch weitere, die er dann rausgeschmissen hat.
Dann machte er Bekanntschaften, Leute, die irgendwie zur Familie gehörten und was drauf hatten: Trümmerlesbe Ingrid Caven, Böslesbe Margit Carstensen, Pummeltucke Volker Spengler, Hanno Pöschl aus Wien, hübscher Bursch und sozusagen sein Baer-Double, der schneidige Preuße Karl-Heinz von Hassel („Querelle“), der wie ein heimtückischer Bürokrat wirkende Hark Bohm, Filmer aus Hamburg, Klaus Löwitsch, der Münchner Macker, Gottfried John, den keiner kannte, der es zum 007-Gegenspieler bringen sollte.
Als Nächstes holte er sich Abgehalfterte aus der Versenkung, Yvan Desny und so weiter. Wurde eine schräge Mixtur, welche einem Gruseln, auch Bewunderung abnötigte. Von da an konnte er rufen, was Rang und Namen hatte, sie kamen. Die Trissenaar war die Muse von Hans Neuenfels, der sich in Frankfurt austobte, städtisches Regietheater übelster Sorte. Wegen auch Operninszenierungen bei Opernfreund Eckhard Henscheid (Frankfurt) zum geschätzten Hassobjekt gereift. Später, der Ruhm verblasste, zog Neuenfels in Stuttgart den Stiefel einfach noch mal ab.
Fassbinder holte, zumal er sich mit der Schygulla überworfen hatte, weibliche Top-Theater-Aktricen, die Froboess, die Zech, die Sukowa. „Doch dann wurd es ihm in Deutschland zu klein, drum zog er in die Welt hinein.“ Franco Nero (Querelle), Dirk Bogarde, Giancarlo Giannini (Rom, von Lina Wertmüller) (Lola), Jeanne Moreau (Querelle) ... Wiederum diejenigen, die auf ihrem absteigenden Ast waren, hofften, durch den „wild German“ von Rollenklischees noch mal wegzukommen. Romy Schneider hat er nicht gekriegt, zu beider Lebzeiten, schade isses.
Trissenaar war keine Fassbinder-Schauspielerin, sondern Neuenfels-Schauspielerin. Hier die Besetzung seines legendären „Die Ehe der Maria Braun“, 1978: Hanna Schygulla, Elisabeth Trissenaar (als Freundin), Klaus Löwitsch (der aus dem Krieg nie heimkehrende Ehemann Braun), Rainer Werner (Schieber), Hark Bohm, Ivan Desny, Günther Kaufmann (amerikanischer Besatzer, von dem Frau Braun sich die Zigaretten erschläft), Karl Heinz von Hassel, Günter Lamprecht, Lilo Pempeit (Mama Fassbinder Senior), Volker Spengler, Gisela Uhlen, Gottfried John, Bruce Low (niederländischer Sänger, berühmt für „Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand“).
Nachdem Maria Braun den ganzen Film lang Zigaretten an der Flamme des Gasherds angezündet hat, dreht sie, als ihr Mann dann noch heimkehrt, das Gas zwar auf, stürzt sich, während das Braun-Haus vom „Tor! Tor!“-Geplärre des Endspiels der Berner Fußball-WM widerhallt, aber in eine Liebesszene mit dem Langvermissten, vergisst ihr Gas, greift zum Streichholz - und es hat Bumm gemacht. Genial. So genial. Angeblich die gesamte deutsche Befindlichkeitsgeschichte 1933 bis 1955 in nur zwei Stunden.
Wir raten dir eher zu „Satansbraten“. Ekel Kurt Raab ist scharf auf Jünglinge, kann aber nicht landen. Er markiert, à la Stefan George, der sich mit Jünglingen umgab, den Geniedichter. Kann nur nicht dichten. Fassbinder selbstkritisch, seine Figuren durchgeknallte Marionetten. Nicht schön, typisch RWF.
>> „Angst essen Seele auf“ ist Schmonzette.
> Habe Verklärtäugiges gehört.
Glaub mir: Fassbinder hatte es drauf, simple Geschichtchen so zu erzählen, dass sie einem auf die Nerven gingen. Die Schauspieler turnen lassen als Popanze. Leute wie der Spiegel-Karasek erklärten Deutschland, das wäre die Kunst, die Welt beneide uns. Lieschen Müller musste ins Kino und es gut finden.
Eines Tages macht Fassbinder einen Film über eine tüttelige Dame vom Grill, die so allein ist, bis sie einen marokkanischen Araberbart (entweder war die Rolle Marokkaner oder der Schauspieler Tunesier oder irgendwie) trifft, der sich die Seele aus dem Leib weint, weil in Deutschland keiner ihn haben mag. Kocht sie ihm ein gutes Essen, streicht ihm übers Haar, wie er so mampft. Er: „Als Nächstes zeig ich dir, wie Couscous geht.“ Oder so. Sie lächeln, sie strecken ihre bebenden Fingerchen, sie machen ihr Rein-Raus-Spiel. Über den knarrenden Altbaudielenbrettern lauert der hinterfotzige Herr Sedlmayr. Er schüttet Muttchen, nachdem sie Hausputz gemacht hat, eine Kehrschaufel vor die Haustür und ruft: „Seit Sie sich von den strichenden Araberjüngelchen (der Mann ist Anfang dreißig, ein Bettbube des RWF) hernehmen lassen, haben’s nicht mehr nötig, auf Sauberkeit zu achten, gell?“ Im Hintergrund ein Chor vertrockneter Nachbarinnen: „So is. Des meldn mir jetz der Hausverwaltung.“
Muttchen weinend im Lehnstuhl. El Hedi Ben Salem streicht ihr übers graue Haupthaar und radebrecht „Angst. Angst essen Seele auf.“ Deutsches Publikum: „Wir haben das gemerkt. Kunst. Große Kunst.“