Frau Brückners Sätze fangen frisch an, geradezu voranstürmend, geraten ein wenig ins holpernde Einschieben von allerlei erklärungsbedürftigen Zusammenhängen, wobei man dann praktisch zugucken kann, wie sie, immer weiter sprechend, innerlich ins Grübeln absackt, was tut sie hier denn überhaupt, was hat sie nur vor, was hat sie eben noch gesagt, was hat sie sich wieder alles vorgenommen, es ist ja komplizierter, die Wahrheit ist so komplex. Und schon steht sie als ein Akrobat, der den weiten Ausschwüngen seiner Balancestange konsterniert zusieht und weiß, dass er nun also abstürzen muss. An dieser Stelle ist ein Irrtum oder Rückgang dann schon ausgeschlossen. Frau Brückner bricht ihren Wortschweif ab, verstummt, unterschlägt das Ende jeglicher Erzählung, als hätte sie schon längst zu viel gesagt. Es kann sich ja jetzt auch jeder schon denken. Aber, ganz ehrlich: Man kann es sich nicht denken, wir haben allenfalls eine Ahnung, wo sie hat hinwollen, bevor es zu viel geworden ist. Jedes Mal fängt Frau Brückner was Neues an und lässt uns wieder allein und auch sie ist jetzt allein in ihrer Versunkenheit.
Das Unerwartete ist, dass Frau Brückner tipptopp in Schale geworfen ist. Mit ihren fast sechzig Jahren - das Alter deutet sie nur an, Frau Henkenhaf wird es Monate später sein, die es in eine schnöde Zahl gepackt veröffentlicht - verfügt Frau Brückner über eine gertenhaft schlanke, schwingende und biegsame Physis, vom Typ her sportlich-jungenhaft zu nennen. Das Haar ist nicht tatsächlich grau, wenn auch genug grau, um zu zeigen, dass es nicht gefärbt wurde. Frau Brückners Hände sind groß, die Finger schlank und gerade und sie zittern nicht und haben keine Tabakflecken, obwohl Frau Brückner in jeder Pause sogleich auf den Hof läuft, um etwas Tabak zu inhalieren. Frau Brückners Sprechweise, wenigstens solange es um banale Alltäglichkeiten geht und nicht um Dinge, die man gerne über sie erfahren wollte, ist heiter und klar, weist durchaus nicht jenen beleidigten, sich selbst leid tuenden Singsang vieler lebenslanger Arbeitsloser auf, den wir als Teilnehmer von dergleichen Trainingsmaßnahmen gut im Ohr haben.
Jedes Mal nimmt Frau Brückner morgens teil bei der Startrampe, nachmittags hat sie als Halbzeitstellen-Vermittelbare frei. Gut, manchmal muss sie zum Arzt, dann nicht. Und immer kommt sie mit dem eigenen Wagen und stets einige Minuten zu spät, sodass sie kein einziges Mal am Smalltalk der Runde vor dem Beginn Anteil hat.
Wenn wir uns nicht täuschen, trägt sie zu jedem einzelnen Termin über die gesamte Maßnahmendauer hin jeweils neue Aufmachungen, alles tadellos und geschmackvoll. Bürgerlich, leger, damenhaft, sportlich. Zum Beispiel ein Jägerinnenkostüm mit ausgesprochen schönem Halstuch. Uns kommt der Gedanke, dass die Welt mehr wie früher werden sollte. Da würde es solche Kaufmanns- und Arztgattinnen geben, die zu Hause eine Migräne und den kleinen Hund pflegen oder einige Damen fürs Bridge haben und von unaussprechlichen Unterleibsproblemen gefoltert werden. Jeden Tag wären sie früh auf und bei jeglichem Wetter überaus zuvorkommend und höflich im Treppenhaus und hinterließen kleine Duftwölkchen und sie würden niemals nach Kräuterlikörfläschchen riechen, wie man sie sie vielleicht doch mal heimlich in einen Papierkorb im Stadtpark leeren sähe, denn irgendein Laster hat sogar der Erzengel von Knäckebrot.
Frau Brückner ist noch in ihren Fünfzigern, aber etliche Jahre auch Großmutter. Die meiste Zeit ist sie alleine zu Hause und führt sich selbst den Haushalt. Frau Brückners Tochter ist Anfang vierzig und verheiratet, wohnt mit der Familie samt Enkelkind also anderwärts. Frau Brückner war einstens, wie man jetzt wahrscheinlich ausgerechnet hat, eine Mutter im Teenageralter. Sie hat in jenen Jahren auch ihre Schule nicht beendet und nie einen Beruf erlernt oder später längere Zeit am Stück ausgeübt. Aber sie war schon überall und sie hat schon alles gemacht. Zum Beispiel Englisch, na ja, durchgekommen ist sie überall irgendwie.
„Englisch Hausgebrauch, sagen wir mal.“
Von manchen im Startrampe-Teilnehmerkreis werden wir nie mehr erfahren, was die Behinderung ist, die ihnen einen Grad der Behinderung von mindestens 60 und somit die Förderung durch speziell geschulte Kräfte beim Jobcenter eingebracht hat. Manche haben es nebenbei mal erwähnt, manche gleich am ersten Tag bei der Vorstellungsrunde. „Meine Krankheit“, hatte Frau Brückner damals gesagt. Und seitdem immer wieder einmal: „Natürlich ist das auch durch meine Krankheit bedingt.“ „Ich mit meiner Krankheit“, „Frau Henkenhaf, wir müssen noch drüber reden, wegen meiner Krankheit muss ich Ihnen was sagen.“ Weil sie es uns allen anderen nie mehr sagen wird, was zu sagen wäre wegen meiner Krankheit, wollen wir mit Raten anfangen: Aufmerksamkeitsdefizit, paranoide Ängste, Depressionen? Irgendwas ist an der Frau und ihrem verzauberten Zustand, was uns denken lässt, diese Rolle mit ihren wiederkehrenden Andeutungen über gewisse Leiden ist ihr unverzichtbar geworden im Leben, wenn auch die tatsächlichen Einschränkungen sich eigentlich ganz gut bewältigen lassen.
Frau Brückner hat im Leben alles schon mal gemacht. Sie hat ein ausgreifendes Spektrum an Erfahrungen, aber eine ziemlich schlechte Papierform ihrer Bewerbungsunterlagen. Folglich hüpft Frau Henkenhaf vor Freude fast vom Stuhl, als sie erfährt, dass Frau Brückner sich - vor deren Ende - jahrelang um eine kranke Mutter gekümmert hatte. Diese litt an einer Form von Demenz, man musste viel nach ihr schauen. Zwar hat Frau Brückner auch noch Geschwister, aber wie das so ist, wenn man alleinstehend und eine Frau ist und nicht arbeiten geht, aber da muss Frau Brückner unter vier Augen Frau Henkenhaf ein paar Dinge noch genauer erzählen. Nein, nein, es habe professionelle Pflegekräfte für die Betreuung gegeben, aber sie hätte über Jahre weg sozusagen begleitet.
Frau Brückner kommt mit alten Menschen gut zurecht. Bloß sind bei all dem Hände ringenden Suchen nach Betreuern die fachlichen Qualifikationen und beruflich vorgeschriebenen Abschlüsse sehr anspruchsvoll. In ihrem Alter und mit ihrer Krankheit geht es für Frau Brückner nicht, eine Ausbildung zu absolvieren. Es gibt einen Schein für Altenbetreuer, die bloß drei Monate Kurs mit finanzieller Unterstützung des Arbeitsamts vorweisen müssen. An dieser Stelle kommt die besondere Vernetztheit von der Startrampe als langjährige, gut angesehene Wohlfahrtseinrichtung im Reuenthaler Raum ins Spiel. Frau Henkenhaf ist gut bekannt mit der Leiterin eines Seniorenheims, wo man Frau Brückner möglicherweise mittels einwöchigem Praktikum einschleusen kann.
Frau Brückner stellt sich bei dem Haus vor und erzählt hinterher im Kurs, wobei sie auch jetzt wieder eine Aura um sich hat, sie dürfe sich auf keinen Fall zu genau einlassen auf das, was sie hier zu sagen hat, denn sonst geriete sie unter Anspannung und würde es mit ihrem Zusammenbruch verderben: Die Chefin sei freundlich, das Haus für die alten Leute sehr angenehm und die alten Menschen der Hilfe bedürftig. Man habe sie überall herumgeführt.
Und was Sie über die Woche Praktikum denke?
„Na, ich war ja jetzt überall, ich kenne doch schon alles, da kann ich das machen“, meint Frau Brückner.
Nach ihrer Praktikumswoche ist zuerst einmal Ostern und nach Ostern möchte Frau Henkenhaf erfahren, wie es dort war.
„Oh, war gut eigentlich. Ich hab ja alle kennen gelernt. Die sind freundlich dort.“
Und ob Einsatzmöglichkeiten für sie bestünden?
Na, das wisse sie nicht, darüber habe sie mit der Einsatzleiterin nicht geredet. Aber anscheinend sei der Eindruck, den sie gemacht habe, nicht schlecht, denn man habe gefragt, ob sie über die Feiertage nicht im Haus sein wollte. Sie habe allerdings nicht gleich so viel von sich hergeben wollen.
„Na, manche Dinge sollte man schon auch fragen. Es ist immerhin das Heim, wo Sie über das Praktikum an Ihren Betreuerschein kommen können!“
Oh, erschrickt Frau Brückner, das sei ihr wohl nicht klar gewesen.
Eine der trickreichen, harmlos daherkommenden und einen aufs Glatteis führenden Fragen in den Vorstellungsgesprächen ist: „Erzählen Sie uns was über sich!“ So eine Frage, wenn man vorher noch keine Antwort trainiert hat, löst Schockstarre aus und darum sollen bei der Startrampe mit der Zeit alle vorn sich hinstellen und was erzählen von sich. (Was vorn ist am Kreis, ist ja schwer zu sagen, es ist aber neben dem Flipchart und oberhalb der Schulter einer sich verbissen Notizen machenden Frau Henkenhaf.)
Frau Brückner war noch dabei gewesen, als Pappschildchen ausgegeben worden waren, auf welche man Stichwörter für seinen Vortrag schreiben konnte, die man auch am Flipchart befestigen könnte. Als die ersten tatsächlich stehen und sprechen, ist Frau Brückner nicht dabei, da ist sie im Altersheim. Nachher kommt Ostern. Aber beim nächsten Mal soll sie ihren Vortrag halten und das kann sie nicht.
„Nein, nein, das kann ich heute nicht“, wehrt sie ab.
„Es ist schon noch Zeit. Wir schieben es vielleicht bis nach meinem Urlaub.“
Ja, sinnt Frau Brückner, jetzt so unvorbereitet überfordere sie das. Aber genau in dem Augenblick, als Frau Henkenhaf sich dem nächsten Teilnehmer zuwendet, spricht sie plötzlich wieder, wie zu sich selbst: „Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich nicht viel nachdenke und es hinter mich bringe.“
Wie? Aber man hätte gerade verschoben!
Nein, nein, sie mache das gleich jetzt.
Frau Brückner geht nach vorn, setzt sich auf einen Stuhl, den Frau Henkenhaf ihr hingeschoben hat, fängt zu sprechen an, bricht bald ab.
„Nein, das hat keinen Sinn, ich bin innerlich aufgewühlt. Dafür brauche ich den Lebenslauf.“
Sie holt sich die Bewerbungsmappe, blickt beim Sprechen mit leeren Augen hinab, man hat nicht den Eindruck, sie würde irgendein Wort wirklich sehen, blättert um, obwohl auf Blatt zwei - gemäß Startrampe-Anweisungen - keine Daten mehr stehen, sondern das persönliche Stärkenprofil, ein längerer Text.
„Oh, das ist falsch. Ich fange besser noch mal an. Also, geboren bin ich ...“
Bei aller Erregung denkt sie dran, das exakte Datum wieder nicht zu nennen, sondern nur den Geburtsort. Sie bricht ab, starrt vor sich hin.
„Entschuldigung, ich kann das heute wohl nicht. Vielleicht ...“
Frau Henkenhaf will sie schonen und winkt ab.
„Na ja, es kommt halt durcheinander. Dann kam ja meine Tochter.“
Von wem auch immer, wann auch immer. Frau Brückner schaudert.
„Ich merk grad ganz stark, wie alles wieder hochkommt. Das ist schwer für mich. Dann ...“
Stumme Ratlosigkeit.
Hinterher wird man es wissen, spätestens an dieser Stelle hätte sie abbrechen müssen. Sie mit ihrer namenlosen Krankheit, mit einerseits den Schüben, andererseits einer Dozentin Henkenhaf, der sie alles unter vier Augen sagen kann.
„Also, ich bin damals das Opfer von einer Gewalttat geworden.“
Pause. Sie hat jedes Recht, das hier nicht zu vollenden. Aber wieso setzt sie, die sowieso nie irgendwas bis ans Ende ausspricht, überhaupt an? Ein geheimer Zwang im Selbsthilfe-Stuhlkreis?
Von Frau Brückner ein einzelner Satz noch aus den Kinderjahren ihrer Tochter. Dann erstickt die Stimme.
Der Syrer Sidi, dem es öfter mal an einer passenden deutschen Wendung gebricht, versteht die Lage nicht richtig und will ihr mit den vermeintlich verlegten Wörtern aushelfen.
„Und das Kind war also in der Schule?“, souffliert er.
Frau Brückner würdigt ihn keines Blickes. Sie schnellt vom Stuhl hoch und geht tonlos zurück an ihren Platz im Kreis. Auch dort sagt sie kein weiteres Wort.
„Gut, lassen wir’s“, mümmelt Frau Henkenhaf. „Nach meinem Urlaub vielleicht. Also sind wir mit den Selbstdarstellungen durch und ich gebe die Laptops für Ihre Angebotesuche aus. Folgen Sie mir bitte in den Technikraum!“