Die wirklich eine Sache, an die ich glaube

Bild von Giulia
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„Hey, hey...warte mal.“ Er lief hektisch auf sie zu und blieb schließlich im respektvollem Abstand neben ihr stehen. Der Wind zog scharf zwischen dem Geländer der Brücke entlang, verwirbelte sich schwebend und trug schließlich die kühle Luft die Autobahn hinab.
Die Scheinwerfer flackerten auf, das Rauschen erfüllte die Nacht und ergab somit ein sonderbares Konzert der Industrialisierung.
„Bleib weg!“, kreischte sie gegen den Wind an. Das Haar schlug ihr gegen das Gesicht und sie ergab einen deutlich zerzausten Zustand. Dennoch schwang sie sich elegant über das Geländer der Brücke und blieb auf der anderen Seite stehen. Der nächste Windstoß kam, sodass eine Schwingung durch das Konstrukt der Autobahnüberquerung kam. Ihre Finger klammerten sich an dem Geländer fest. Nun mehr stand sie mit den Fersen auf der Brücke, doch der Großteil des Fußes hing über der Autobahn.
Mehrere Fahrzeuge gaben ein Hupen von sich. Es war davon auszugehen, dass die Fahrer sehen konnten, was sich dort oben abspielte.
Er hob beschwichtigend die Hände. „Wow...okay.“ Sein bleiches Gesicht unter dem Melonenhut schimmerte in der Dunkelheit. „Ich wollte nur anmerken, dass du mir deine Nummer immer noch nicht gegeben hast.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich meine...“, mit dem Daumen deutete er über die Schulter den Weg zurück, den er gekommen war. „...ist irgendwie keine Art einfach abzuhauen.“
Sie starrte ihn entgeistert an. „Sag’ mal, spinnst du? Hat dir niemand beigebracht...“ Ihr Blick verfing sich in seinen nachtschwarzen Augen.
„...dass man in Ruhe gelassen werden möchte beim Suizid? Oh, ich vertrete die Meinung, dass Gesellschaft nie schadet, aber mach erst Mal fertig. Ich kann dich danach noch fragen.“
Lässig lehnte er sich seitlich gegen das Geländer, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie unverwandt mit einem milden Lächeln an.
„Was bist du denn für ein Freak?“ Nun hatte sie sich schon leicht zur Seite gedreht und schob die Füße weiter unter das Geländer.
Ja, er war ihr schon in dem Club wie ein Freak vorgekommen mit seinem Anzug und der Melone auf dem Kopf. Schwarz hing im der Pony im Gesicht. „Wenn ich da unten lande, bleibt da nicht mehr als Matsch.“
Er lachte amüsiert und kurz auf. „Da bleibt mehr übrig als du glaubst.“ Er zuckte wieder mit den Schultern. „Probiere es doch aus.“
Ihr verschlug es abermals die Sprache. „Ich erwarte danach deinen Anruf.“ Er schien regelrecht amüsiert über die Situation zu sein. „Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen.“ Seine Hand hob sich zum Gruß und er wollte gehen.
„Hey, warte mal.“ Elegant schwang sie sich über das Geländer auf die Brücke zurück und blieb mittig auf dem Weg stehen. Unsicher schwankte sie auf den schwachen Beinen zur Seite, ehe sie sich fing. Er schien bereits mit der Dunkelheit verbunden zu sein, aus der er nun wieder heraustrat.
„Na? Was ist denn jetzt los?“ Er blieb direkt vor ihr stehen.
„Was meinst du mit ‚da bleibt noch viel mehr übrig’?“ Verständnislos forschte sie nach der Antwort in seinen schwarzen Augen.
Mit stoischer Ruhe ließ er das zu, lüftete die Melone und setzte ihr diese auf das Haar. Jetzt erst bemerkte sie wie der Wind zarter ihr Haar umspielte, sodass lediglich die Spitzen an ihren Schultern ein Wenig wippten. Alles schien von einer schwebenden Stille umgeben zu sein. Und da bemerkte sie, dass das Stimmenkarussell in ihrem Kopf ganz still zu stehen schien. Wie in Watte gepackt.
„Ich meine es so wie ich es sage.“ Er legte den Kopf schief, dann hob er die Hand und berührte federleicht mit seinen Fingerspitzen ihren Brustkorb. Ein Vibrieren erschütterte die Gegend um ihr Herz und grünliches Licht schien unter ihrer Kleidung zu schimmern. Er fuhr mit der Fingerspitze den Hals hinauf und zog einen hellweißen Streifen mit sich bis an ihrer Kehle ein bläuliches Licht begann zu schimmern. Von da aus leuchteten bald ihre Stirn, ihr Bauch, der Unterbauch und schließlich ihre Lendenwirbelsäule in dunkelblau, gelb, orange und rot auf.
Weißes Licht schimmerte unter ihrer Haut, wärmte sie wohlig warm von Innen und obwohl sie das Gefühl hatte ihren Körper nicht mehr zu spüren, überkam sie keine Angst, sondern eine tiefe unerschütterliche Ruhe. Über ihren Kopf verließ das Licht ihren Körper und formierte sich zu einer violetten Kugel.
Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr so einsam, so verlassen und ausgeliefert, sondern verbunden mit allem was sie umgab.
Mit faszinierten Blick, weit offenen Augen, riss sie jene von ihm los, ließ sie wandern, drehte sich langsam um die eigene Achse. Die mächtige Lebendigkeit löste sich aus dem Firmament, Wurzeln aus reinem weißen
Licht wuchsen scheinbar in ihren Körper hinein oder hinaus; sie konnte es nicht sagen und eigentlich war das auch gar nicht so wichtig.
„Was passiert hier grad?“, fragte sie leise, während sie aus dem Augenwinkel bemerkte wie sich die Umgebung regelrecht zersetzte und alles zu Licht und buntem diffusen Nebel wurde. Rottöne und Grüntöne verwoben sich zu einem schillernden Violett und Abermillionen kleiner weißer Punkte schimmerten stillschweigend und geduldig.
Sie konnte ihn nicht mehr wahrnehmen, doch seine Stimme erklang aus ihrem Innersten, tief verborgen und schien nicht länger von ihr getrennt zu sein.
„Nun, manchmal ist das folgendermaßen: Wenn du dafür betest, dass das Ende endlich kommen möge, du die Arme ausstreckst und die letzten Meter Richtung Abgrund beschließt blind zu laufen, kann es sein, dass du direkt in eine große Überraschung hineinrennst, die Augen aufmachst und feststellst, dass es tatsächlich nur einen Trick gibt: ’Wir sind am Leben. Immer, fortwährend ohne ein Ende. ‘

Und sie schien ohne ihren Körper in einer alles umfassenden Dunkelheit zu schweben. Es gab kein Ende und keinen Anfang. Lediglich das Gefühl, das alles Gut war, erfüllte ihre Körpermitte.
Dann riss sie plötzlich die Augen auf. Der Beton unter ihren Knien fraß sich in durch die kaputte Jeans in ihre Haut hinein. Der Schmerz zuckte durch ihren Körper und sie riss noch ein zweites Mal die Augen auf. Das Bild vor ihr verschwamm, dann nahm sie das zuckende Blaulicht aus dem Augenwinkel war. Es flackerte aufdringlich, während wie durch Watte ein Stimmengewirr an ihren leeren Kopf drang.
Sie sog die kalte Nachtluft in ihre Lungen hinein, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den unergründlichen Sternenhimmel. Das Schwarz der Dunkelheit erinnerte sie an seinen Blick und, obschon sie es besser wusste, sah sie sich kurz nach ihm suchend um. Lange konnte sie über die Abwesenheit des merkwürdigen Mannes nicht nachdenken, da die Stimmen ihrer Eltern an ihre Ohren drangen. Sekundenschnell war sie auf ihre Beine gesprungen, taumelte und warf sich ihrer Mutter in die Arme. Schluchzend umfing die mütterliche Wärme ihren zitternden Körper, das Ohr auf ihrem Herzen. Sie hörte es Schlagen und dem Rhythmus, den sie schon tausendfach gehört hatte, folgte eine leise Melodie, die sie ebenso kannte. Neun Monate lang gehört. Gleißendes wärmendes Licht durchfloss ein weiteres Mal ihren Körper, während die Tränen heiß über die Wangen rannen.
„Mädchen“, fragte nun auch ihr Vater mit bebender Stimme. „Was hast du denn hier oben gemacht?“
„Ich habe etwas gesucht“, gab sie murmelnd zurück und paradoxerweise umspielte ein seichtes Lächeln ihre Lippen.
„Hast du es gefunden?“, fragte ihre Mutter.
„Ja, ich habe wirklich die Sache gefunden, an die ich immer glauben werde.“

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